Suess und ehrenvoll
versinken ließ. Und mich mit Dir. Zwanzig Jahre ist es her, dass ich Dir dieses süße und traurige Lied vorgesungen habe, und ich summe wieder und wieder die eine Zeile vor mich hin: Vergessen werd ich dich nie …
Denkst Du, dass ich übertreibe? Dass ich mich zu sehr von Emotionen überwältigen lasse? Schon möglich. Aber eines kannst Du mir glauben: Dieser Gefühlsausbruch ist mehr als die Nostalgie, mit der man auf der Schwelle zum Tode auf sein Leben zurückblickt. Ich habe mit Dir nie darüber gesprochen, aber was ich hier zum Ausdruck bringe, sind meine wahren Empfindungen für Dich. Ich habe sie Dir nie gestanden und nur selten etwas davon preisgegeben. Erstens weil ich Dir nicht lästig werden wollte. Da ich meinen Gefühlsüberschwang kenne, habe ich mir immer Zurückhaltung auferlegt, nicht nur in Worten, sondern auch in Bezug auf meine Körpersprache. Zweitens sollten Deine Schwestern nicht fühlen, dass meine Liebe zu Dir etwas Einzigartiges ist. Eine Liebe, wie sie normalen Sterblichen nur in seltenen Glücksfällen zuteil wird. Und das, liebster Louis, ist auch der Grund für meine Bitte, diesen Brief keinem Menschen zu zeigen – mit Ausnahme von Élise, vor der Du hoffentlich nie etwas geheim halten wirst. Es würde Deinen Schwestern und auch Deiner M utter wehtun, wenn sie davon erführen. Warum sollte ich ihnen aus dem Grab heraus unverdienten Schmerz zufügen?
Liebster Louis, kein Mensch hat mir so viel Lebensfreude geschenkt wie Du. Ich weiß nicht, ob ich Dir dafür danken soll. Kann man dem Sonnenstrahl danken, der durch die Wolken bricht?
Ich glaube fest an Dich, Louis. Du weißt jetzt, mit welcher Intensität ich Deine Entwicklung verfolgt habe. Klug warst Du immer schon. Und so verschlossen, dass Du nur schwer Kontakt zu Kindern Deines Alters gefunden hast. Doch Du hattest ein gutes Herz und einen hoch entwickelten Gerechtigkeitssinn. Was Dich vor allem auszeichnete, war eine schier unersättliche intellektuelle Neugier. Der Wille und die Begabung zum Lernen prägten jede Phase Deines Heranwachsens. Dazu kam auch eine erstaunliche körperliche Entwicklung. Deine Mutter und ich sind nicht besonders klein, doch Du hast uns bei Weitem überflügelt! Hochgewachsen, breite Schultern, ein kräftiger, muskulöser Körper und als Krönung ein Gesicht, das, auch wenn Du es Dir nie eingestanden hast, alle Frauenherzen bricht!
Wenn Dir etwas fehlt, dann ist es Selbstbewusstsein. In Dich gekehrt, wie Du von Natur aus bist, hast Du bisher noch nicht das Selbstbewusstsein entwickelt, das Deiner Begabung, Deinen Erfolgen und Deinem Äußeren entspricht. Ich habe den Eindruck, dass diesbezüglich dieser fürchterliche Krieg vielleicht etwas Gutes hat: denn Du bist daran gewachsen, bist Dir Deiner selbst bewusst geworden. Ich bin sicher, das wird sich im Laufe der Jahre noch verbessern, und zwar deshalb, weil Du allen Grund hast, selbstbewusst zu sein.
Muss ich deshalb befürchten, dass Du ins Gegenteil verfällst und ein übertriebenes Selbstgefühl entwickelst? Dass Du hochmütig oder arrogant wirst? Nein, das wird nicht geschehen, dessen bin ich mir sicher. Und ich will Dir auch sagen, warum. Weil Du eine der Eigenschaften besitzt, die meiner M einung nach ein Unterpfand für ein zufriedenes, erfolgreiches Leben sind: Deine Ausgeglichenheit. Du bist ein durch und durch ausgeglichener Mensch. Neigst nicht zu Extremen. Du bist besonnen. Ein denkender Mensch, der sich von der Vernunft leiten lässt. Nur wenige können das in diesem Maße von sich behaupten. Und deshalb glaube ich an Dich und Deine Zukunft und bete nur darum, dass Du aus diesem langen, schrecklichen Krieg unversehrt hervorgehst. Wenn Dir das gelingt, brauche ich mir über Deinen weiteren Lebensweg keine Sorgen mehr zu machen.
Aber es gibt etwas, was ich bis heute bei Dir vermisst habe. Im Gegensatz zu Deinen Altersgenossen hast Du bisher noch kein Mädchen nach Deinem Herzen gefunden. Dass Dir das fehlte, wusste ich längst. In dieser Hinsicht war ich ein wenig besorgt um Dich. Manchmal kamen mir sogar Zweifel an Deinem künftigen Glück und Erfolg im Leben. Ich wusste aber, dass ich dieses Thema nicht aufbringen durfte. Ich hätte Dich damit nur gekränkt und Dein Selbstbewusstsein als Mann beeinträchtigt. Sogar mit Deiner Mutter habe ich nur hin und wieder andeutungsweise darüber gesprochen.
Daher war der Brief, der mich heute erreichte, so ungeheuer wichtig für mich. Als ich las, was Du über Élise schreibst, floss mein Herz
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