Suess und ehrenvoll
einzuschlafen, bewegte sich sein Bein im Schlaf und ließ ihn vor heftigen Schmerzen hochschrecken.
Am Morgen freute Ludwig sich auf ein warmes Bad, das seine Qual lindern würde. Im Krankenhaus gab es allerdings keine richtige Badewanne, nur einen Waschzuber, in den er sich hineinsetzen konnte. Als das verletzte Bein mit dem warmen Wasser in Berührung kam, ließen die Schmerzen sofort nach. Es gelang ihm sogar, behutsam die Gelenke zu bewegen. Eine Welle der Erleichterung überschwemmte ihn. Auch der Druck in den Schläfen, der durch die Angst vor den Schmerzen und die schlaflose Nacht verursacht worden war, war verschwunden. Ludwig wäre beinahe in halb sitzender, halb liegender Position eingeschlafen. Er musste an die Badewanne denken, in der Jean Paul Marat ermordet worden war, als er Linderung für sein quälendes Hautleiden gesucht hatte. Einen solchen Dolchstoß brauchte er hier wohl nicht zu befürchten. Dafür zwang ihn die Schwester viel zu früh aus dem warmen Wasser heraus, was ihm in diesem Moment fast ebenso grausam erschien.
Die Fahrt in den Schwarzwald brachte er mithilfe von Krücken und unter starken Schmerzen hinter sich. Doch die intensiven Behandlungen und sein eiserner Wille, die Heilung des Beins voranzutreiben, sorgten dafür, dass es ihm von Tag zu Tag besser ging.
Der Briefwechsel zwischen Karoline und ihm hatte seinen normalen Rhythmus wieder erreicht – und sogar darüber hinaus. Zwei, drei Briefe täglich schrieben sie einander. Der Krieg war nun nicht mehr ihr Hauptthema. Auch das Thema Judenzählung erwähnte Ludwig in seinen Briefen nicht, wusste er doch selbst nicht so recht, was er davon halten sollte, und er wollte Karoline nicht beunruhigen. Er hatte vielmehr ein schlechtes Gewissen, weil er seine Geliebte nach seiner Verletzung so lange ohne Nachricht gelassen hatte.
So erzählte er ihr ausführlich von den Büchern, die er gelesen hatte, und von Gesprächen mit neuen Bekannten. Auch sie hielt sich an eher alltägliche Themen und fügte Beschreibungen des Alltags in Frankfurt hinzu. In erster Linie aber überhäuften sie sich mit Liebeserklärungen. Es war, als lebten sie in einer Blase. Sie ignorierten den Krieg, der um sie tobte.
Anfang Januar tauchte ein hochdekorierter Offizier in der Klinik auf, um einen Kameraden zu besuchen. Der elegante Fliegerleutnant kam Ludwig bekannt vor. Ein weiterer Blick überzeugte ihn davon, dass es sich um Wilhelm Frankl handelte, dem er zuletzt auf der Reitbahn in Frankfurt begegnet war. Der Gleichaltrige hatte sich seinerzeit besonders beim Hindernisspringen ausgezeichnet. Was Ludwig aber noch mehr beeindruckt hatte, war der Flugschein, den Wilhelm bei Melli Beese gemacht hatte.
Vom ersten Kriegstag an hatte Frankl als Pilot gedient, und inzwischen war er eine Berühmtheit. Seine Taten waren in der Öffentlichkeit bekannt. Er war ein Liebling der Presse.
Kampfpiloten, moderne Helden der Lüfte, in schneidiger Uniform, wurden von den Journalisten als »Flieger-Asse« gefeiert und auch schon von Dichtern besungen. Frankl hatte weit mehr als ein Dutzend feindliche Flugzeuge abgeschossen, Bombenangriffe geflogen und riskante Aufklärungsflüge hinter die feindlichen Linien unternommen. Zwei Tage vor dem Treffen mit Ludwig hatten die Zeitungen in Schlagzeilen verkündet, dass es ihm als erstem Kampfflieger in der Geschichte gelungen sei, ein feindliches Flugzeug in einem Nachtgefecht abzuschießen. Kein Wunder also, dass Frankl die begehrtesten Orden trug, die das Reich zu vergeben hatte: das Eiserne Kreuz Erster Klasse, das ihm Generalfeldmarschall Hindenburg an die Brust geheftet hatte, und den Pour le Mérite, der ihm vom Kaiser persönlich verliehen worden war. Frankl befehligte die verwegenste Jagdstaffel der Luftwaffe, die mit Fokker-Flugzeugen, dem »letzten Schrei« der Flugzeugindustrie, ausgerüstet war.
Erstaunlicherweise erkannte er Ludwig auf Anhieb wieder und ging freudig auf ihn zu: »Ludwig, was machst du hier, warum gehst du auf Krücken?«
»Ich glaube, es war ein Granatsplitter«, sagte Ludwig. Er betrachtete seinen Gast, der älter aussah, als er ihn in Erinnerung hatte. Die wasserhellen Augen und das straff gekämmte schwarze Haar waren ihm vertraut, doch inzwischen war ein üppigerSchnurrbart dazugekommen, der ein exakt umrissenes Dreieck zwischen Nase und Mundwinkeln bildete. Frankls Blick wirkte ernster und reifer. ›Das ist nur natürlich‹, dachte Ludwig, ›der Ruhm eines Jagdfliegers ist nichts als der
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