Suess und ehrenvoll
ihn Ludwig, »aber du hast doch sicher eine Meinung dazu, auch wenn du persönlich nicht betroffen bist!«
»Natürlich. Und wenn du mir nicht ins Wort gefallen wärst, hätte ich hinzugefügt, dass es für mich keinerlei Bedeutung hat, ob ich selbst von der Zählung erfasst wurde oder nicht. Sie ist eine Katastrophe für uns alle, auch für mich als getauften Christen.«
»Und was wird jetzt geschehen?« Ludwigs Schläfen begannen, heftig zu pochen, wie damals im Krankenhaus, als er zum ersten Mal von der Zählung gehört hatte. »Von deiner hohen Warte aus siehst du die Dinge sicher klarer als ich, der einfache Infanterist.«
»Ich glaube, dass gar nichts geschehen wird, zumindest vorläufig nicht. Nicht vor Ende des Krieges. Das Reich braucht uns alle. Je härter der Krieg wird, umso weniger kann man sich nutzlose innere Zwistigkeiten erlauben, und dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Gemeinschaft und den liberalen politischen Kräften, die in diesen Zeiten nur lästig ist. Es trägt auch nicht zum Erfolg des Krieges bei, wenn die jüdischen Soldaten sich diskriminiert fühlen und verbittert in denKampf ziehen. Aber ich denke dabei nicht nur an die Massen von jüdischen Frontkämpfern. Ist dir eigentlich klar, welchen wirtschaftlichen und industriellen Beitrag wir Juden zu diesem Krieg leisten? Nein, nicht nur im Zivilleben, auch im militärischen Bereich! Unsere Leute werden auf der Generalstabsebene eingesetzt, dank ihrer Bildung und Erfahrung im Zivilleben. Wenn du wüsstest, wie bedeutend der Beitrag jüdischer Wissenschaftler zur Entwicklung unserer Waffen ist! Ich weiß, wovon ich rede. Mein Leben als Jagdflieger hängt von unserer Rüstungstechnologie ab. Angesichts des Kriegsbeitrags der Juden und der Liberalen, die auf ihrer Seite stehen, ist Antisemitismus einstweilen kein Thema, außer in peripheren fanatischen Kreisen, die keinerlei Überblick haben und in ihrer eigenen imaginären Welt leben.«
Diese Worte aus dem Munde des berühmten Kriegshelden fielen wie ein Lichtstrahl in Ludwigs bedrücktes Gemüt. »Also dürfen wir trotz allem auf ein gutes Ende hoffen?«, rief er aufgeregt.
Ein trauriges, leicht sarkastisches Lächeln spielte um Frankls Lippen. »Ich habe nichts von einem guten Ende gesagt«, seufzte er. »Wenn du mir genau zugehört hättest, wäre dir klar, dass ich von einem vorläufigen Zustand gesprochen habe.«
»Was meinst du damit?«, fragte Ludwig, den wieder ein Gefühl der Beklemmung überkam.
»Ich meine, dass wir nur bis zum Ende des Krieges Ruhe haben werden. Danach werden unsere Staatsführung und die Antisemiten die ›Ergebnisse‹ der Judenzählung ausposaunen. Vielleicht weißt du gar nicht, dass es bei dieser Zählung, milde ausgedrückt, nicht sehr korrekt zugegangen ist. Die Ergebnisse unterliegen strenger Geheimhaltung und werden mit Sicherheit je nach Lage manipuliert werden, und zwar nicht von Leuten, die uns wohlwollen. Das gilt auch für den Fall, dass wir den Krieg gewinnen, doch vor allem für den Fall, dass wir ihn verlieren.«
»Wir werden den Krieg nicht verlieren, das kann gar nicht sein!«, rief Ludwig entrüstet.
»Nun ja«, sagte Frankl gelassen, »ich hoffe, du hast recht. Wenn wir den Krieg verlieren, weiß ich nicht, wie ich weiterleben soll. Aber das ist noch kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.«
»Hör mal«, fiel Ludwig ihm ungeduldig ins Wort, »ich bin auch dagegen, eine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben. Aber die Tatsachen sprechen für sich. An der Front hatte ich keinen Überblick über die Gesamtlage, doch im Krankenhaus und hier in der Klinik komme ich dazu, regelmäßig Zeitung zu lesen. Ich höre auch Vorträge und unterhalte mich mit vielen Menschen. Mittlerweile kann ich mir ein klares Bild von dem Krieg machen. Es stimmt zwar, dass wir in einen Stellungskrieg verwickelt sind. Das ist schlecht für uns, aber auch für unsere Feinde. Auf dem Schlachtfeld haben wir bisher alle besiegt: zu Beginn des Kriegs die Russen im Osten und danach die Franzosen im Westen. Wir haben sie daran gehindert, nach Elsass-Lothringen und in den Teil von Belgien einzudringen, den wir besetzt halten. In Belgien haben wir auch die Engländer geschlagen. Unsere österreichischen Verbündeten siegen über Serbien, Italien und Rumänien. Die Türkei hat den Engländern bei Gallipoli eine vernichtende Niederlage zugefügt. England hat vergeblich versucht, an der Somme durchzubrechen, und dabei so viele Verluste erlitten, wie
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