Suess und ehrenvoll
da, in Slowenien war es ihnen am Isonzo bei Caporetto gelungen, die italienischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, in wenigen Tagen eine halbe Million italienische Soldaten außer Gefecht zu setzen und nach Friaul einzudringen. Doch trotz dieser katastrophalen Nachrichten waren immer noch keine Amerikaner in Sicht. Wo blieben die neuen Verbündeten?
Geliebte Élise,
mehr als alles andere drängt es mich, über uns zu schreiben. Immer wieder lasse ich unsere gemeinsamen Erlebnisse der l etzten drei Wochen Revue passieren und staune jedes Mal aufs Neue. Für welche gute Tat belohnt mich der Himmel? Womit habe ich all das verdient? Eine Liebe, von der ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Ein Halt, an den ich mich in einem Augenblick klammern konnte, der mich mehr erschüttert hat als alle Kriegsgräuel. Tausend Dinge möchte ich Dir sagen. Dir immer wieder mein Herz ausschütten. Dich so vieles fragen. Doch leider muss ich mich mit anderen Dingen befassen. Die Vorbereitungen sind in vollem Gange, die Stimmung ist angespannt. Hier kündigen sich Ereignisse an, wie ich sie trotz meiner dreijährigen Kriegserfahrung noch nicht erlebt habe. Uns steht eine lange Fahrt bevor – nicht nur ein paar Dutzend Kilometer bis zur Front, sondern fast tausend Kilometer bis nach Ostitalien.
Du hast sicher in der Presse von der Katastrophe gelesen, die dort passiert ist und immer noch im Gange ist. Inzwischen hören wir, dass die Österreicher schon kurz vor Venedig stehen. Anscheinend werden wir dort zum Einsatz kommen. So lauten die Gerüchte, aber Näheres weiß ich nicht. Mein Vater hat mir immer wieder gesagt, ich müsse unbedingt einmal nach Venedig fahren. Doch anders als sonst wollte er mich nicht begleiten. »Venedig musst du mit der Frau erleben, die Du liebst«, hat er gesagt. »Die Stadt der Liebenden. Der Inbegriff von Romantik.« Mein armer geliebter Vater. Er hätte sich wohl kaum vorstellen können, unter welchen Umständen ich diese Traumstadt sehen würde. Nun habe ich eine Frau. Und ich bin unsterblich verliebt. Ich bin ihr mit Haut und Haaren verfallen. Aber ich fahre nicht mit ihr nach Venedig. Ich fahre mit einer Armee. Keine Romantik erwartet mich dort, sondern das Gegenteil. Mein Vater hatte mir etwas anderes für meinen ersten Besuch in Venedig versprochen …
Laut Befehl müssen wir trotz aller Befürchtungen um die Entwicklungen an unserer französischen Front Truppen zur Rettung Italiens entsenden. Dabei fiel mir eine Episode ein, d ie ich schon fast vergessen hatte. Im Frühjahr 1915 wurde ich nach längerem Frontdienst in der Champagne zum Wachdienst in einem Gefangenenlager eingeteilt. Von Ruhe konnte zwar nicht die Rede sein, aber im Vergleich zu den Schützengräben war es das Paradies (für uns natürlich mehr als für die Gefangenen …). Unter den Gefangenen, die wir zu bewachen hatten, war ein deutscher Offizier, dessen Namen ich vergessen habe. Er sprach fließend Französisch und freute sich über die Gelegenheit, in Gesprächen mit uns seine Sprachkenntnisse aufzufrischen. Unter anderem erzählte er mir, wie gut ihm der Gottesdienst in der Lagerkirche gefalle. »Der französische Armeepriester, den Ihr uns deutschen Katholiken zur Verfügung gestellt hat, ist ein Lichtblick für uns.«
»Warum?«, fragte ich verwundert.
»Weil er im Gegensatz zu unseren Geistlichen keine Kriegspropaganda macht und überhaupt jegliche Propaganda und Politik aus dem Spiel lässt. Unsere Messe wird ganz nach katholischer Tradition zelebriert.«
»Wie denn sonst«, sagte ich, und wir lachten beide.
Eines Tages ging ich zu ihm. »Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie.«
»Sagen Sie bloß nicht, dass ich freigelassen werde und in den Schützengraben zurück muss«, sagte der Deutsche lachend.
»Nein«, erwiderte ich, »die schlechte Nachricht betrifft euch alle: Eure italienischen Verbündeten haben die Seiten gewechselt. Italien hat sich uns angeschlossen und Euch den Krieg erklärt.«
Der Deutsche sah mich erstaunt an. »Seltsam. Seit fast einem Jahr warten wir darauf, dass die italienischen Streitkräfte aktiv werden, und jetzt, da sie endlich beschlossen haben, in den Krieg einzutreten, kämpfen sie gegen ihre Verbündeten? Höchst eigenartig. Das kann ich nicht verstehen.« Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Eine zwar seltsame, aber nicht unbedingt schlechte Nachricht! Jedenfalls n icht für uns. Aber vielleicht für euch! Wenn ihr glaubt, dass Italiens Beitritt euch stärker
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