Suess und ehrenvoll
des Südens begleiten? Hat man Sie dazu gezwungen? Und wie können Sie Ihren Dienst versehen, wenn Sie nicht auf unserer Seite sind?«
»Diesmal bin ich am Sieg der französischen Armee interessiert,« gab er zur Antwort. »Hier hat unsere Armee endlich eine würdige Aufgabe – sie schützt die katholische Monarchie Italiens, und das unterstütze ich.«
»Das mag sein, aber wenn ich die Lage in Rom richtig beurteile, so handeln Italien und seine Monarchie auch nicht im Sinne des Papstes und der Kirche.«
»Richtig«, bestätigte der Priester, »doch jetzt gibt Gott den Italienern Gelegenheit, sich für den rechten Weg zu entscheiden. Als Katholiken und Monarchisten werden sie einsehen, dass nur Gott sie retten kann und dass sie ihre Haltung dem Heiligen Stuhl gegenüber ändern müssen.«
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Hättest Du gedacht, liebste Élise, dass es bei uns noch Menschen gibt, die so denken? Während ich mit der Antwort zögerte, sagte der kuriose Priester mit salbungsvoller Stimme: »Ich hoffe, dass ich Sie überzeugt habe. Jetzt werden auch Sie das Licht sehen.«
D a packte mich die Lust, ihn zu schockieren – Du kennst mich ja –, und ich sagte in todernstem Ton: » Non, mon père, Sie haben mich nicht überzeugt, denn ich bin Jude.« Damit stand ich auf, wandte ihm den Rücken und ging. Jetzt tut es mir leid, dass ich nicht noch einen Augenblick länger geblieben bin, um sein Gesicht zu sehen, nachdem er seine Redekünste an ein Subjekt verschwendet hatte, das ihm schlimmer erscheinen musste als jeder noch so kirchenfeindliche Republikaner …
Genug geplaudert, mein Schatz. Ich weiß nicht, was passieren wird und wann es losgeht. Und ich weiß auch nicht, wann ich wieder zum Schlafen komme. Deshalb werde ich mich jetzt hinlegen. Und ganz fest an Dich denken, bevor ich einschlafe. So wie ich im Zug an Dich gedacht habe.
Glühende Küsse
von Deinem Louis
Den Franzosen gelang es, die Österreicher und Deutschen am Piave aufzuhalten. Inzwischen hatten sich auch die Briten den Franzosen angeschlossen, und die Rettung Italiens schien gesichert. Louis schrieb Élise einen letzten Brief aus Italien.
Hier ist es wahrlich wunderschön, zu gern würde ich Dir das alles zeigen. Doch wir werden es wohl nicht mehr lange genießen können. Die Gerüchte mehren sich, dass Deutschland die eigenen und verbündeten Truppen von der östlichen und südlichen Front abgezogen hat, um sie nach Belgien und Nordfrankreich zu verlegen. Dort rechnet man mit einer Stoßoffensive. Bald werden sie uns dort brauchen.
Louis sollte recht behalten. Im Januar 1918 saß er wieder in den berüchtigten Schützengräben, diesmal bei Amiens in der Picardie. Wieder musste er sich der schrecklichen Routine des Grabenkriegs unterwerfen, die ihm von der Champagne, vonVerdun und dem Chemin des Dames nur allzu lebhaft in Erinnerung war. Wieder lag er in Schlamm und Kälte vor den deutschen Stellungen.
Meine geliebte Élise,
nun liegen wir schon einen Monat vor dem Feind im Graben, ohne dass es zu einer Offensive gekommen wäre. Worauf warten die Deutschen? Und worauf warten wir? Derweil versuchen wir, die Zeit totzuschlagen. Vor Langeweile amüsieren wir uns manchmal mit den Deutschen. Wir rufen Schimpfworte, Flüche und Obszönitäten von Graben zu Graben. Dabei sind die Deutschen uns meistens überlegen. Viele von ihnen können Französisch, die einen mehr, die anderen weniger, aber jedenfalls genug, um auf Französisch zu fluchen. Da bei uns kaum jemand Deutsch spricht, begnügen wir uns bei den Schimpfkanonaden mit der eigenen Sprache, was natürlich weniger effektiv ist. Manchmal stellen wir leere Konservendosen oder Flaschen auf die Brüstung des Schützengrabens und lassen die Deutschen darauf schießen, und sie revanchieren sich mit gleicher Münze. Jeder Treffer wird vom Gegner mit Beifall quittiert, und wenn der Schuss fehlgeht, ertönt ein Pfeifkonzert. Kurz, der reine Kindergarten. Und jetzt müssen wir abwarten, bis aus dem Kindergarten bittere Wirklichkeit wird und wir nicht mehr auf Flaschen und Blechdosen schießen, sondern auf lebende Menschen. Wir wissen alle, dass es sehr bald und plötzlich losgehen kann. Übrigens ist uns aufgefallen, dass die Deutschen manchmal mit den Spielchen aufhören und ganz still sind. Unsere Späher behaupten, das passiere jedes Mal, wenn ein hoher Offizier, der selbst nicht im Schützengraben lebt, die Stellungen inspiziert. Wenn bei uns Offiziere zu Besuch
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