Suess und ehrenvoll
zitiert mein Vater verlässliche Quellen, nach denen die große jüdische Gemeinde in Amerika ihren beträchtlichen Einfluss zu unseren Gunsten geltend macht. Die meisten Juden in Amerika stammen aus Russland, sagt mein Vater, und sie hassen nichts mehr als das niederträchtige antisemitische Regime dort. Wenn Amerika schon in den Krieg eintritt, sollte es ihrer Meinung nach aufseiten der Deutschen und Österreicher gegen Russland kämpfen.«
»Auch du, Brutus?«, sagte Frankl lachend. »Du glaubst also auch an den Mythos der jüdischen Macht in Amerika? Wenn wir uns auf die amerikanischen Juden verlassen müssten, wäre unsere Lage wirklich ganz aussichtslos.«
Die Männer sahen sich verlegen an. Beide waren selbst nicht ganz von den Thesen überzeugt, die sie vertraten. Was ihnen an Hoffnung blieb, war von Sorgen und Ängsten überschattet.
Frankl stand auf, um sich zu verabschieden. »Ich hoffe nur, Ludwig, dass meine düsteren Prophezeiungen sich nicht bewahrheiten. Wir werden siegen, weil wir es müssen. Ich kann mir ein besiegtes Deutschland nicht vorstellen, das wäre für mich das Ende der Welt.«
»Glaub mir, Wilhelm«, sagte Ludwig in einem letzten Versuch, Frankl und vor allem sich selbst aufzumuntern, »wir werden siegen, und wie wir siegen werden! Und den Sieg werden wir zusammen in Frankfurt feiern.« Die beiden verabschiedeten sich mit einer Umarmung und einem etwas gezwungenen Lächeln.
27
I TALIEN — 1917
P ICARDIE — 1918
Louis und Élise verbrachten fast seinen ganzen Urlaub in Bordeaux. Die überströmende Herzlichkeit, mit der sie im Hause Naquet empfangen worden waren und die Louis nach dem Tod des Vaters so gutgetan hatte, machte ihm bewusst, dass seine Mutter ihn ebenso sehr brauchte wie er sie. Élise empfand die Atmosphäre bei den Naquets nicht weniger wohltuend als er. Seine Mutter und seine Schwestern nahmen sie wie eine liebe Verwandte auf und nicht wie eine Fremde, die sie gerade erst kennengelernt hatten.
Élise und die Töchter Naquet mochten sich auf Anhieb, und die Trauer um den Vater verlieh dieser Zuneigung eine tiefere Dimension. Allein die Gegenwart der jungen Frau war für die Familie ein großer Trost. Das Liebespaar wohnte in Louis’ ehemaligem Kinderzimmer. Morgens stand Louis wie selbstverständlich in aller Frühe auf, um in der Bäckerei zu arbeiten, die jetzt von seiner Mutter und einem Angestellten betrieben wurde.
Am Nachmittag und Abend ging er mit Élise spazieren. Er zeigte ihr voller Eifer alle Ecken und Winkel, um sie für seine Heimatstadt zu begeistern. Er wollte ihr alle Orte zeigen, die er mit seinem Vater entdeckt hatte, und erzählte ihr alles, was der ihm erklärt hatte. Für Élise wurde dadurch sein Vater so gegenwärtig, als ob sie ihn noch zu seinen Lebzeiten gekannt hätte.
Keine noch so ausgedehnten, monatelangen Vergnügungen in Paris hätten die Liebenden einander so nahegebracht wie die zwei Trauerwochen im Hause Naquet. Und so war Louis trotz aller Trauer glücklich, nicht nur über die Beziehung zu Élise,sondern auch über die so rasch gewachsene Nähe zwischen Élise und den Frauen der Familie, die er sich niemals erträumt hätte. Und doch fühlte er immer wieder einen Stich im Herzen, wenn er an den schmerzlich vermissten Vater dachte. Wie sehr hätte er die zukünftige Schwiegertochter geliebt!
Als das junge Paar vor Louis’ Rückkehr zur Front noch einige Tage bei den Lichentins in Paris verbrachte, erzählte Élise begeistert von der Familie Naquet, die sie so herzlich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren sich sogleich einig: »Das nächste Mal fahren wir mit euch nach Bordeaux! Wir werden die Naquets bitten, uns auch einzuladen, und sie sind uns natürlich auch jederzeit in Paris willkommen.«
Doch wann würde es ein nächstes Mal geben? Einstweilen musste Leutnant Naquet zu seiner Einheit zurückkehren. Wo würde es diesmal hingehen? Die Stimmung in Frankreich war bedrückt. Das verbündete Russland war als Kriegsmacht ausgeschieden. Auch Rumänien, das sich kurz zuvor der Entente angeschlossen hatte, war von den Österreichern geschlagen und erobert worden. Und gerade war eine neue Hiobsbotschaft eingetroffen: Mehr als zwei Jahre lang hatte der italienische Bündnispartner vergeblich die österreichischen Linien angegriffen. Elf Offensiven, unterstützt mit französischen Waffen, waren gescheitert. Und nun hatten die Österreicher mit deutscher Hilfe zu einer heimlich vorbereiteten Gegenoffensive angesetzt. Und siehe
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