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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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macht, kennt ihr die Italiener nicht. Nicht nur, dass sie euch nicht helfen werden, ihr werdet auch noch Truppen abzweigen müssen, um ihnen zu helfen.« Wie recht er gehabt hat!
    Als der Brief so weit gediehen war, ereilte Louis der Befehl, alles stehen und liegen zu lassen und seine Abteilung auf den sofortigen Aufbruch vorzubereiten. Louis steckte den angefangenen Brief in die Tasche. Nachdem er seine Leute zusammengetrommelt und die nötigen Befehle erteilt hatte, beeilte er sich, seinen Rucksack zu packen. Dann fügte er dem Brief noch ein paar kurze Zeilen an und versprach Élise, ihr bei nächster Gelegenheit ausführlich zu schreiben.
    Wie sich herausstellte, ließ diese Gelegenheit auf sich warten. Drei Tage und Nächte lang wurden die Soldaten im überfüllten Güterzug durchgeschüttelt. Hin und wieder gab es eine kurze Pause, damit sie ihre Notdurft verrichten konnten. Die Endstation war Verona. Mittlerweile rückten die österreichischen Streitkräfte ebenso schnell vor, wie die italienische Armee zusammenbrach. Sie eroberten den größten Teil der Provinz Venedig, drangen aber noch nicht bis zu der Lagunenstadt vor. Die französischen Truppen gruben sich am Piave ein, um dort den Feind aufzuhalten. Nach dem Ausheben der provisorischen Stellungen fand Louis endlich Zeit, seinen Brief an Élise fortzusetzen.

    Wieder quälen mich die Ängste, die man als Soldat vor dem Kampf empfindet. Ja, liebste Élise, daran hat sich nichts geändert. Nach viertägiger Fahrt kamen wir zerschlagen an. Rechtzeitig zur nächsten Schlacht. Daran gewöhnt man sich nicht. Ich habe wieder Schmetterlinge im Bauch. Nein, es sind wohl mehr Skorpione! Genau wie vor drei Jahren. Nur dass ich jetzt noch weniger Gefühle zeigen darf als damals. Ich m uss ein Vorbild sein, meine Männer ermutigen, sie in dem Glauben bestärken, dass ihnen nichts passieren wird. Dabei will ich etwas ganz anderes. Ich möchte den Kopf in Deinen Schoß legen und weinen. Ja, ich gebe es zu. Das ist es, was ich wirklich möchte. Jetzt hoffe ich nur noch, dass es endlich losgeht. Dass der verfluchte Krieg bald vorüber ist. So sehr habe ich mir den Feind noch nie herbeigewünscht. Ein seltsames Gefühl.
    Während der Fahrt konnte ich nicht schreiben. Die Enge, das Gerüttel des Zuges, die anderen Soldaten ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Aber ich habe dauernd an Dich gedacht. Was das für Gedanken waren, erzähle ich Dir, wenn wir uns wiedersehen. Alles werde ich Dir erzählen, wenn auch nicht immer im hellen Tageslicht. Es gibt Dinge, die ich Dir nur im Dunkeln sagen möchte. Sie zu schreiben, traue ich mich nicht. Sonst würde der Zensor rot vor Scham, oder, noch schlimmer, er würde mich auslachen!
    Einstweilen sitze ich in einem provisorischen Graben und schwatze mit meinen Kameraden, um die Zeit totzuschlagen.
    Im Zug hatte ich eine merkwürdige und überraschende Begegnung mit einem Geistlichen. Im ersten Teil meines Briefes habe ich Dir von meinen Gesprächen mit einem deutschen Kriegsgefangenen vor zweieinhalb Jahren berichtet. Der Deutsche hatte mir erzählt, wie zufrieden er mit der seelsorgerischen Betreuung durch den französischen Priester war. Stell Dir vor, dass ich genau diesen Priester im Zug nach Verona getroffen habe. Was für ein seltsamer Zufall.
    Als ich ihn hier im Schützengraben wiedersah, habe ich ihn angesprochen. Er heißt Valéry Morieul und stammt aus einer Bauernfamilie. Ich fragte ihn, ob er freiwillig im Gefangenenlager gedient habe oder ob er dorthin geschickt worden sei.
    »Freiwillig und mit Freuden«, erwiderte er.
    »Warum?«, fragte ich. »Wäre es Ihnen nicht lieber gewesen, französische Soldaten zu trösten und aufzurichten?«
    » Nein, bei französischen Soldaten geht es nicht nur um Seelsorge. Man zwingt uns, Kriegspropaganda zu machen. Wir sollen ihnen republikanischen Patriotismus und Opferbereitschaft einflößen.«
    »Aber ist das nicht notwendig und berechtigt?«, fragte ich.
    »Nein, durchaus nicht«, erwiderte er heftig. »Das Frankreich von heute ist ein verbrecherischer Staat. Ein Staat, der die nach göttlichem Willen eingesetzte Monarchie gestürzt hat. Eine Republik, die eine Trennung zwischen Religion und Staat vorgenommen hat. Die in den Augen der Kirche das Böse tut. Dieser Republik gebührt eine harte Strafe.«
    Nachdem ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, sagte ich: »Aber dann verstehe ich nicht, Pater Morieul, warum Sie uns, die Soldaten der Republik, jetzt zu den Schlachtfeldern

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