Suess und ehrenvoll
Augenwinkel zu der Gruppe hinüber. Tatsächlich, das Lächeln kam ihm bekannt vor.
›Nein, nein‹, dachte er, ›das ist nicht die Zeit, an Mädchen zu denken. Ich muss mich auf die Prüfung vorbereiten.‹ Bald war er wieder so in seine Lektüre vertieft, dass er nur noch das Vogelgezwitscher hörte. Plötzlich spürte er, dass jemand auf ihn zukam. Es war eine der jungen Frauen. Sie fragte, ob sie und ihre Freundinnen ihn zum Picknick einladen könnten, und zeigte auf einen üppig bestückten Korb. Ludwig zögerte trotz desHungers, der ihm jetzt erst bewusst wurde. Die Mädchen würden ihn bloß in Verlegenheit bringen.
»Na, kommen Sie schon«, meinte die Studentin, »Sie haben doch nichts zu essen und zu trinken mitgebracht! Typisch Mann.« Da er dem nichts entgegenzusetzen wusste, nahm er die Einladung mit einem verlegenen Murmeln an.
»Ludwig Kronheim aus Frankfurt«, stellte er sich mit einer leichten Verbeugung den anderen vor. Während die Studentinnen ihn unverhohlen musterten, spürte er, wie ihm die Hitze in die Ohren stieg. Er achtete darauf, nicht zu der kleinen Studentin aus der Bibliothek hinüberzuschauen, doch sie war die Erste der Gruppe, die sich ihrerseits vorstellte: »Karoline Schulzendorf, ebenfalls aus Frankfurt«, sagte sie und reichte ihm die Hand mit einem ganz besonderen Lächeln.
»Ich dachte, ihr kennt euch schon!«, rief das Mädchen, das Ludwig geholt hatte.
»Wir sind uns schon mal über den Weg gelaufen«, antwortete Karoline, »aber vorgestellt haben wir uns noch nicht. Ich wusste jedenfalls bisher nicht, wie unser Gast heißt.«
Sie betrachtete sein rundes Kindergesicht, das immer röter wurde. Die anderen Mädchen nannten ebenfalls ihre Namen und begannen kichernd, die Körbe auszupacken, breiteten eine Decke aus und stellten die mitgebrachten Speisen darauf. Eine Studentin drückte Ludwig ein Glas Weißwein in die Hand und forderte ihn auf zuzugreifen.
Karoline tat so, als sei sie mit ihren Freundinnen ins Gespräch vertieft. Dabei langte sie kräftig zu. Während Ludwig höflich auf alle Fragen antwortete, schielte er immer wieder zu Karoline hinüber. Wenn sie ihm den Kopf zuwandte, sah er schnell in eine andere Richtung. Er wollte ihrem Blick nicht begegnen, denn dann wäre er gewiss gleich wieder rot geworden. Karoline hatte die Schuhe ausgezogen. Sie trug feine Seidenstrümpfe, die ihre zierlich gewölbten Füße und die vollendete Rundung ihrer Waden betonten. Das geblümte Kleid umspieltelose den schlanken Körper. Ludwig konnte nicht anders, er musste sie in Gedanken ausziehen: schmale Hüften, kleine Brüste. Er versuchte sogar, sich die Farbe ihrer Brustspitzen vorzustellen, konnte sich aber nicht entscheiden. Mehr noch fesselte ihn Karolines Gesicht: die großen, braunen, wachen Augen, in denen manchmal ein grüner Schimmer aufleuchtete. Sie nur ab und zu flüchtig anzuschauen fiel ihm mit jeder Minute schwerer. Ihre helle, glatte Haut stand im Gegensatz zum dunklen Haar. Ihre Nase hatte am Ansatz eine kleine Senkung und wölbte sich lang und schmal über die Lippen. ›Eine provokante Charakternase‹, dachte Ludwig bei sich. Ihren Mund mit den schönen Zähnen nahm er schon als Selbstverständlichkeit. Sie strahlte so eine Sinnlichkeit aus! Wie kam es, dass er das nicht bemerkt hatte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte?
Mit einem Mal sprang Karoline auf, zog ihre Schuhe an und verkündete, man müsse jetzt wieder arbeiten. Sie reichte Ludwig zum Abschied die Hand. »Sie müssen uns nicht beim Zusammenpacken helfen. Schön, dass Sie uns Gesellschaft geleistet haben, aber jetzt lernen wir weiter.« Ludwig erstarrte. War alles schon vorbei? Wie auf dem Flur, als er vor ihr davongelaufen war? Würde er auch diesmal nichts unternehmen, um sie wiederzusehen?
Da rief Karoline plötzlich: »Wenn Sie morgen früh in der Bibliothek sind, können Sie mir wieder die Bücher herunterreichen!«
Am nächsten Tag war Ludwig schon sehr viel früher im Seminar, als er vernünftigerweise mit Karolines Erscheinen rechnen konnte. Für eine Studentin, die den ganzen Morgen arbeiten wollte, kam sie sogar reichlich spät, und Ludwig hatte sich schon eine Erklärung zurechtgelegt, mit der er sich trösten würde: Das Ganze sei von Anfang an nichts Ernstes gewesen. Mit ihrer Bemerkung über die Bibliothek habe sie kein Interesse an ihm bekunden wollen. Sie habe einfach nur gesagt, dass sie am nächstenTag hier lernen wolle, mehr nicht. Es war völliger Unsinn, zu glauben,
Weitere Kostenlose Bücher