Suess und ehrenvoll
dass sie ein Rendezvous mit ihm hatte vereinbaren wollen. Sie kannte bestimmt viel interessantere Männer.
Aber dann kam sie. Ihre Augen suchten ihn, und als sich ihre Blicke trafen, ging in ihrem Gesicht wieder dieses Lächeln auf. Sie kam auf ihn zu und murmelte irgendeine Begründung für ihre Verspätung. Ludwig hörte nur mit halbem Ohr zu. Hauptsache, sie war da! Sie schien auch nicht viele Bücher zu brauchen. Er hatte den Eindruck, dass die Folianten, die er für sie herunternahm, sie nicht wirklich interessierten. Schon bald verließen die beiden das Seminar und gingen zu einem frühen Mittagessen in eine Schankwirtschaft.
Ludwig nahm kaum wahr, was sie aßen. Wichtig war nur, dass sie im Getümmel zusammensaßen. Als ihnen klar wurde, dass sie schon über zwei Stunden im Schatten der großen Linde saßen und die Sonne allmählich zu ihnen herumkam, standen sie auf, und Ludwig begleitete Karoline zu ihrer Pension. Aber auch dort konnten sie sich nicht trennen, sondern gingen wieder zurück ans Ufer des Neckars und unterhielten sich weiter. Die Studenten, die an ihnen vorbeigingen, störten sie nicht im Geringsten. Schließlich gab Karoline ihm die Hand und sagte, sie müsse nun wirklich gehen. Doch sie zog ihre Hand nicht zurück und hielt die seine scheinbar unabsichtlich fest, als wolle sie ihm nur noch schnell eine Geschichte zu Ende erzählen. Langsam begannen ihre ineinander verschränkten Hände sich zu bewegen. Sich zaghaft zu streicheln. Sie streichelten sich auch noch, als Karoline zu sprechen aufgehört hatte. Sie standen nur da und sahen sich an, während ihre Hände einander liebkosten.
5
F RANKFURT AM M AIN
— Juni 1914 —
Am Ende des Sommersemesters fuhren Karoline und Ludwig gemeinsam nach Frankfurt zurück. Das Semester war vorbei, und sie fühlten sich grenzenlos frei. Die Klausuren hatten sie bestanden, und jetzt lag nur noch ein Studienjahr vor dem Staatsexamen. »Stell dir vor, in einem Jahr bin ich Referendar«, sagte Ludwig und strahlte die ihm im Abteil gegenübersitzende Karoline an.
»Ja, und dann?«
»Dann werfe ich mich in den Kampf um eine Stellung im Staatsdienst.«
»Willst du das wirklich tun? Du weißt doch, wie schwer sie es dir machen werden. Und selbst wenn es dir irgendwie gelingen sollte, wirst du ständig darum kämpfen müssen, befördert zu werden. Warum gehst du nicht in die Privatwirtschaft? Du könntest doch in einem Anwaltsbüro arbeiten. Das machen die meisten. Du verdienst gutes Geld und gewinnst rasch hohes Ansehen.«
»Die meisten?« Ludwig biss wütend die Zähne zusammen. »Die meisten Juden, meinst du. Das sehe ich gar nicht ein.« Erneut, und nicht zum ersten Mal, versuchte er ihr zu erklären, warum gerade für ihn der Staatsdienst das große Ziel war. Doch sie sah ihn nur verständnislos an. ›Nun ja‹, dachte Ludwig, ›sie ist eben keine Jüdin. Was versteht sie schon von unseren Problemen, Empfindlichkeiten und Ambitionen! Vielleicht ändert sich das, wenn sie erst meine Frau ist – doch davon kann ich wohl nur träumen.‹ Er verstummte und starrte hinaus auf die Berge des Odenwalds, die in der Ferne vorbeizogen.
Von klein auf, und das war wirklich kurios, war Ludwig ein begeisterter Reiter gewesen. Schon als Sechsjährigen hatte ihn seine Mutter zu einer Ponyreitschule gebracht. Auf der runden Reitbahn trabten etwa zehn Ponys mit ihren kleinen Reitern durch den tiefen Sand. Die Kinder saßen schwankend im Sattel, wurden hin- und hergeworfen und fielen auch manchmal herunter, ließen sich aber gleich wieder aufs Pferd setzen. Beim ersten Mal sah Ludwig wie hypnotisiert zu. »Hast du keine Angst herunterzufallen?«, fragte seine Mutter. »Nein, überhaupt nicht«, rief Ludwig begeistert, »ich will auch reiten!« Als ihn der Reitlehrer auf das kleinste Pony gesetzt hatte, war ihm dann aber doch ziemlich mulmig geworden. Er wollte um Hilfe schreien, seiner Mutter zurufen, sie solle ihn von diesem wippenden Tier herunterholen, und zwar sofort, doch er traute sich nicht. Alle Kinder würden ihn auslachen! Ludwig hielt durch und war stolz auf sich, wollte aber trotzdem nach dieser ersten kurzen Reitstunde schnell nach Hause. Aus irgendeinem Grund war sogar seine Hose ein bisschen nass. Ludwig musste lachen, als er daran dachte.
Karoline warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Was ist?«, fragte sie.
»Ach, nichts«, sagte Ludwig, »das erzähle ich dir ein anderes Mal. Hättest du denn Lust, am Sonntag einen kleinen Ausflug zu Pferde mit
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