Suess und ehrenvoll
halbe Jüdin, da deine Mutter nicht jüdisch ist. Einmal hast du mir sogar erklärt, dass du nach jüdischem Glauben gar keine Jüdin bist, weil nur das Kind einer jüdischen Mutter als Jude gilt.«
»Darauf kommt es nicht an«, entgegnete Friede. »Wichtig ist die Beziehung zwischen den Partnern – wenn sie gut ist, hat alles andere nur wenig Bedeutung. Die Frage, wie die Umwelt gemischte Paare sieht, ist nebensächlich. Antisemiten ist sowieso alles egal. Wenn du Friedmann heißt und eine große Nase hast, bist du Jude, auch wenn du getauft bist. Die lehnen dich ab, und damit fertig. Aber auf diese Leute kommt es nicht an.«
»Und die Eltern?«, fragte Karoline. »Bei deinen Eltern gibt es offenbar kein Problem, aber was ist mit Friedrichs Eltern? Und mit meinen und Ludwigs Eltern?«
»Die Krise mit Friedrichs Eltern haben wir überstanden, als wir uns verlobt haben«, sagte die Freundin. »Friedrich war so fest entschlossen, dass sie zugestimmt haben, wenn auch widerwillig. Deine und Ludwigs Eltern werden zweifellos Schwierigkeiten machen, doch man sollte jedes Problem zu seiner Zeit lösen. Noch bist du nicht so weit. Du bist dir ja nicht einmal sicher, ob Ludwig dich liebt und ernste Absichten hat! Das solltest du als Erstes klären und dich nebenbei auch fragen, was du wirklich willst. Dann wirst du auch in der Lage sein, deinen Eltern, der Familie und der Umwelt gegenüberzutreten. Alles hängt von eurer Willenskraft und Entschlossenheit ab.«
Karoline lachte, dann schüttelte sie den Kopf. »Bleib stehen«, sagte sie. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, reckte sich hoch und küsste ihre Freundin fest auf die Wange. »Friede, was würde ich nur ohne dich machen!«
Ludwig fuhr jetzt täglich zum Hippodrom, wo für einen Wettbewerb im Hindernisspringen trainiert wurde. Der Parcours war nach olympischem Vorbild angelegt, wenn auch die Hindernisse nicht ganz so hoch waren. Nach dem anstrengenden Training entspannten sich die Reiter im Klubhaus. Einen von ihnen, Wilhelm Frankl, hatte Ludwig schon auf dem Parcours erspäht.
»Was machst du hier, Wilhelm, du hast dich lange nicht mehr blicken lassen«, sprach Ludwig ihn an.
»Ich war in Berlin-Johannisthal. Ich hab bei Melli Beese den Pilotenschein gemacht. Ich kann jetzt fliegen.«
»Einen Pilotenschein? Was ist denn das?« Die beiden setzten sich zusammen, und Ludwig ließ sich ausführlich von der Fliegerei erzählen. Nach einer Weile kamen sie auch auf private Themen zu sprechen. Frankl hatte keine feste Freundin. Er neigte eher zu flüchtigen Abenteuern. Doch was Ludwig über seine Beziehung zu Karoline erzählte, interessierte ihn, vielleicht gerade, weil diese Liebesgeschichte sich von seinen Erlebnissen unterschied.
»Hast du ihr schon einen Heiratsantrag gemacht?«, fragte er.
»Ich hab ihr ja bis heute noch nicht einmal gestanden, dass ich sie liebe!«
Frankl lachte. Er wartete nie lange, bis er einem Mädchen sagte, dass er es liebe, und hatte viele schöne Erfolge mit dieser Taktik gehabt. Ludwigs Naivität erschien ihm kindlich, rührte ihn aber auch. »Ist das dein einziges Problem?«, fragte er. »Ich kann dir gern ein paar praktische Ratschläge geben.«
»Nein«, wehrte Ludwig ab, »was nach der Liebeserklärung kommt, macht mir noch mehr Angst. Wenn Karoline meinen Antrag annimmt, was ja keineswegs sicher ist, bleibt immer noch die Frage, wie ich meinen Eltern unsere Heiratspläne beibringen soll. Wir sind beide sehr jung und studieren noch. Um den Schritt ins Leben zu wagen, muss man eine Basis haben. Du weißt doch, wie Eltern das sehen.«
»Unsinn«, erwiderte Frankl, »sie werden sich daran gewöhnen.«
»Aber meine Eltern sind Juden. Sie werden dagegen sein, dass ich eine Christin heirate. Und was mich noch viel mehr ängstigt, ist die Reaktion von Karolines Eltern. Würden sie zulassen, dass ihre Tochter einen Juden heiratet? Was meinst du, Wilhelm? Du bist doch auch Jude.«
»Keine Ahnung. Für mich spielt das keine Rolle. Was mich interessiert, ist die Fliegerei.«
»Und Frauen?«
»Ja, natürlich. Aber nur in meiner Freizeit.« Sie lachten ein herzhaftes, männliches Lachen und leerten die Gläser.
6
B ERLIN
— August 1914 —
Ende Juli überraschte Ludwigs Vater ihn mit dem Beschluss, die ganze Familie müsse jetzt nach Berlin fahren. Die Erste-Klasse-Fahrkarten lagen schon bereit. Bereits am nächsten Morgen würden sie in aller Frühe in den Zug steigen. Der offizielle Anlass war ein medizinischer Kongress,
Weitere Kostenlose Bücher