Suess und ehrenvoll
diesen raschen Abschied fast ein bisschen enttäuscht. Eigentlich hatte er auch Friede von den dramatischen Ereignissen erzählen wollen. Sie war ja auch Jüdin! Doch dann war Friede bald vergessen, und anstatt Platz zu nehmen, brach er in einen Redeschwall aus, der nicht zu stoppen war. Karoline schenkte seinen glühenden Schilderungen nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Sie betrachtete zärtlich ihren glücklichen Geliebten, und das Herz schmolz ihr in der Brust. Sie streichelte sanft sein Gesicht, schloss ihn in die Arme, doch selbst als er sie umarmte, redete er immer weiter.
»Karoline«, rief er, »es ist so weit! Wann fährst du nach Hause? Die Stunde des Abschieds wird bald schlagen. Wer weiß, vielleicht ist meine Einberufung schon eingetroffen.«
Karoline antwortete nicht. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn eine breite, mit einem farbenprächtigen persischen Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Als sie in dem Zimmer standen, das Friede für sie hergerichtet hatte, schloss Karoline die Tür ab und fiel ihm um den Hals. Noch nie hatten sie sich so lange und leidenschaftlich geküsst. Ihre Lippen und Zungen verschlangen sich ineinander. Sie rangen nach Luft, doch es fiel ihnen nicht ein, voneinander abzulassen. Ihre Hände tasteten sich vor, erkundeten ihre Körper. Karoline streifte Ludwig die Jacke ab, und er beeilte sich, ihr zur Hilfe zu kommen. Dann riss er sich plötzlich los und schloss die Vorhänge, als ob die Sonne im Westen nicht sehen dürfte, was jetzt kommen würde. Karoline lächelte. ›Wie schüchtern und unsicher er immer noch ist‹, dachte sie.
Rasch verdrängte sie die Erinnerung an ihre bisherigen Erfahrungen mit jungen Männern, die ernüchternd und enttäuschend gewesen waren. Stattdessen zog sie ihr Kleid aus und schlüpfte ins Bett. Diesmal würde alles ganz anders sein.
Unter der Decke bemühte Ludwig sich vergeblich, mit ungeschickter Hand ihre Wäschestücke zu öffnen, bis sie alles selbst abstreifte. Sie zog ihm behutsam die Hose aus, ohne sein steifesGlied zu berühren. Er war wie von Sinnen, konnte nicht mehr an sich halten und versuchte sofort, in sie einzudringen. Doch Karoline schob ihn sanft von sich. »Langsam«, mahnte sie, »langsam, liebe mich so, wie ich dich liebe.« Dann führte sie seine Hand zu ihrem Körper, bis er, von sich und seiner Lust abgelenkt, ihre Regungen und Empfindungen wahrzunehmen begann. Ihre Gefühle verschwammen. Er konnte nicht mehr unterscheiden, ob er sie oder sich spürte, und sie verschmolzen zu einem Wesen.
Ludwig vergaß seine Eltern, die nicht wussten, wohin er gegangen war. Er vergaß, dass er noch am selben Abend mit ihnen zum Bahnhof hatte fahren wollen, um den Nachtzug nach Frankfurt zu nehmen. Einen Augenblick lang streifte ihn der Gedanke an die Vorwürfe, die sie ihm machen würden, doch im nächsten Moment war das alles vergessen. Beide dachten kein einziges Mal daran, dass Friede am späteren Abend zurückkehren würde. Auch das Abendessen vergaßen sie. Endlich schliefen sie erschöpft und ineinander verschlungen ein.
Am Morgen erwachte Ludwig, eingehüllt in den berauschenden Duft der Geliebten. Er wollte die Augen nicht aufschlagen, wollte sie nur spüren, atmen, träumen. Schließlich klopfte Friede an die Tür und weckte sie.
Sie wirkte sehr niedergeschlagen und in sich gekehrt. Auf Karolines Fragen antwortete sie schließlich, dass Friedrich schon in wenigen Tagen eingezogen werde. Er hatte die Grundausbildung bereits absolviert und musste damit rechnen, als Reservist sofort an die Front geschickt zu werden. »Heiraten kommt nicht mehr infrage«, sagte sie. »In so kurzer Zeit kann man keine Hochzeit ausrichten. Wir würden auch standesamtlich heiraten, ohne aufwendige Feier. Die kann man später immer noch nachholen. Aber unsere Eltern – ihr hättet hören sollen, was die uns gesagt haben: ›Ihr heiratet nicht wie Diebe in der Nacht!‹ Sie bestehen auf einer standesgemäßen Hochzeit.«
Karoline wurde plötzlich bewusst, dass ihre Freundin sie beschwindelt hatte, als sie behauptet hatte, ihre Eltern seien weggefahren. ›Während Ludwig und ich im siebten Himmel schwebten‹, dachte sie, ›hat sich ein Drama hier abgespielt.‹ Wie dankbar war sie der Freundin, dass sie ihr das ungestörte Beisammensein mit ihrem Liebsten ermöglicht hatte! Und dazu noch im Haus einer gutbürgerlichen Familie, die entsetzt gewesen wäre, wenn sie es gewusst hätte … ›Ach, Friede, du treue Freundin!‹ Karoline fühlte sich
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