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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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an dem Dr.Kronheim teilnehmen sollte, aber er war ganz offensichtlich der Ansicht, auch seine Frau und sein Sohn müssten jetzt in die Hauptstadt. »Der Kaiser braucht uns«, erklärte er unvermittelt, und Ludwig wagte nicht, genauer zu fragen, was er damit meinte.
    »Wir müssen uns sehen«, sagte Karoline, als er sie anrief. Sie trafen sich wieder am Mainufer, auf der berühmten Platanenallee. Es war Hochsommer, die Sonne brannte vom Himmel. Zuerst gingen sie schweigend nebeneinander her. Beide hatten das Gefühl, dass in ihrem Leben eine Änderung eintreten würde. Es lag etwas in der Luft, und das hatte nicht nur mit den immer lauter werdenden Kriegsgerüchten zu tun. Endlich blieb Karoline stehen und sah ihn lange an. »Sag mir…«, flüsterte sie und verstummte.
    Ludwig schlug das Herz bis zum Hals. Aus ihren Augen sprach so viel Liebe und Gefühl. »Ja«, sagte er, »ja, ich liebe dich.« Er meinte, einen kaum hörbaren Seufzer wahrzunehmen. War das ein Seufzer der Erleichterung? Warum fühlte sie sich erleichtert? Weil sie sich ein Herz gefasst hatte? Oder weil er endlich ausgesprochen hatte, was er empfand? Karoline antwortete nicht, doch das Glück in ihren Augen sagte alles. Mehr als diese Bestätigung brauchte Ludwig nicht.
    In den letzten Julitagen gärte es in Berlin. Überall war die wachsende Spannung zu spüren, obwohl nach außen hin alles seinen gewohnten Gang nahm. Vereinzelt gab es auch kritische Stimmen, was die Kriegsbegeisterung betraf. Dr.Kronheim erzählte entrüstet, er habe von einem Demonstrationsmarsch der Gewerkschaften in Prenzlauer Berg und Friedensaufrufen gehört. Noch schlimmer war, dass die Demonstranten zur Solidarität mit den französischen Arbeitern aufriefen und sich erfrechten, die Marseillaise zu singen! Das ist Verrat, empörte sich Ludwig, wie kann die Polizei so etwas dulden?
    Doch die wenigen pazifistischen Demonstrationen kamen gegen die allgemeine Stimmung nicht an. Seit der österreichischen Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli bezweifelte niemand mehr, dass die Zeit des Abwartens und Zögerns vorbei war. Am Freitag, dem 31. Juli, wurde für Berlin der Kriegszustand erklärt. Ein großer Teil der Straßenbahnfahrzeuge wurde vom Militär beschlagnahmt. Die Börse war geschlossen, der Verkehr in der Stadt stark eingeschränkt und verlangsamt. Am Bismarckdenkmal strömten Menschenmassen zusammen, um zu beten.
    Gegen Abend versammelte sich eine riesige Menge vor dem kaiserlichen Schloss, darunter waren auch Ludwig und seine Eltern. Der Kaiser verließ die Notstandssitzung des Kabinetts und der Armeeführung und trat unter jubelndem Beifall auf den Balkon. »Man drückt uns das Schwert in die Hand!«, rief er und wiederholte seine Behauptung, dass Deutschland von Feinden umringt sei, die Böses im Schilde führten.
    Auf dem Schlossplatz waren nur wenige Frauen zu sehen. Die Menge setzte sich hauptsächlich aus gut gekleideten Männern zusammen, die Hüte oder Strohhüte schwenkten. Die Knaben trugen Krawatte oder frisch gebügelte Matrosenanzüge. Sie sahen nicht aus, als ob sie zum Arbeiterstand gehörten. Nichts erinnerte an die Demonstranten, die vor wenigen Tagen inPrenzlauer Berg gegen den Krieg protestiert hatten. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Viele von ihnen befanden sich schon außerhalb von Berlin und trugen die feldgraue Uniform.
    Ludwig war von Begeisterung übermannt, er biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen. Wenn er gläubig wäre, dachte er, hätte er an diesem Freitagabend eine Synagoge besucht und Gott gedankt, dass er ihm das Glück gewährt hatte, diese Zeit zu erleben. Er warf einen verstohlenen Blick auf seinen Vater, der sich seine Gefühle kaum anmerken ließ. Mit seinem buschigen Schnurrbart sah er dem Kaiser ähnlicher denn je. Der Bart war das Einzige, was an seinem ernsten, verschlossenen Gesicht in Bewegung geriet. Ein wenig feucht sahen die Schnurrbarthaare aus. ›Vielleicht vom Schweiß?‹, fragte sich Ludwig. Ihm fuhr ein alberner Gedanke durch den Kopf: ›Hoffte sein Vater womöglich, dass der Kaiser nur eine Sekunde, eine winzige Sekunde lang, auf ihn herabblicken und ihn bemerken würde? Hatte er seinen Schnurrbart auf diesen Augenblick hingetrimmt?‹ Es trennten ihn hier nur ein paar Dutzend Meter von dem heiß verehrten Monarchen.
    Am nächsten Tag, dem 1. August, erklärte Deutschland Russland und zwei Tage später auch Frankreich den Krieg. Die Oberste Heeresleitung hatte es eilig, den berühmten

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