Suess und ehrenvoll
Schlieffen-Plan in die Tat umzusetzen.
Zwei Tage nach dem unvergesslichen Abend auf dem Schlossplatz hatte Ludwig noch eine weitere wunderbare Begegnung: Karoline war nach Berlin gekommen. Friede hatte ihr telegrafiert, dass sie in Berlin bei ihr wohnen könne, und Karoline hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sich einen Platz im Nachtexpress zu verschaffen.
Die Kronheims waren bei Verwandten zu Gast, und es war für Karoline nicht schwer, ihre Telefonnummer herauszufinden. Sechs Stunden nach ihrer Ankunft saß sie bereits mit Ludwig in einem Café am Kurfürstendamm.
»Was macht ihr eigentlich immer noch in Berlin?«, fragte sie ihn besorgt.
»Ich würde sofort nach Frankfurt zurückkehren«, versicherte er, »und sei es nur, weil ich hoffe, meine Einberufung dort vorzufinden. Aber mein Vater möchte noch ein paar Tage hierbleiben. Übermorgen empfängt der Kaiser Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft zu einer Audienz, darunter einige Vertreter der Jüdischen Gemeinde. In der Gemeinde herrscht schon große Aufregung, und wir möchten hören, was sie uns von dem Empfang berichten werden.« Karoline sah ihn nachdenklich an. Die Kriegseuphorie trübte ihren Blick nicht. Sie war nicht weniger patriotisch gesinnt als alle anderen, doch ihr vorherrschendes Gefühl war Angst. ›Ludwig hat es so eilig, in den Krieg zu ziehen‹, dachte sie. ›Denkt er denn gar nicht an mich?‹
Am Dienstag, dem 4. August, mussten Dr.Kronheim und die anderen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde lange auf die Rückkehr der Delegierten warten, die der Einladung ins Schloss gefolgt waren. Doch als er zu den Verwandten zurückkehrte, wo seine Familie ihn erwartete, war er so begeistert, wie Ludwig ihn noch nie erlebt hatte. »Gott sei Lob und Dank, dass wir in dieser herrlichen Zeit in Berlin sind!«, rief er. »Die Freude in der Gemeinde war unbeschreiblich, als unsere Vertreter aus dem Schloss zurückkamen. Stellt euch vor! Im Weißen Saal des Schlosses war der gesamte Reichstag versammelt, sogar die Sozialdemokraten, dazu Repräsentanten aus allen Bereichen der Gesellschaft, einschließlich der Kirche. Ja, und auch wir genossen die große Gunst, unter den Geladenen zu sein. Seine Majestät versprach uns feierlich, dass von nun an alle Unterschiede der Religion, der Partei- und Standeszugehörigkeit und der Abstammung aufgehoben seien. Er wandte sich an alle Völker und Stämme im Deutschen Reich, jenseits von Parteien und Konfessionen, und rief sie auf, im Guten wie im Bösen, in Not und Tod zusammenzustehen. ›Ich kenne keine Parteien mehr, ichkenne nur Deutsche‹, das hat er wörtlich gesagt. Begreift ihr, was das bedeutet?«, rief Dr.Kronheim mit erstickter Stimme und gerötetem Gesicht. »Das heißt, dass die letzten Schranken zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland gefallen sind! Wir sind Deutsche! Deutsche wie alle anderen. Endlich hat die Emanzipation der deutschen Juden ihr höchstes Ziel erreicht! Jetzt werden wir dem Kaiser und unseren Volksgenossen zeigen, dass wir dieser Anerkennung würdig sind.«
Seinen Sohn brauchte er gar nicht zu überzeugen, Ludwig war Feuer und Flamme. Sein einziger Wunsch: Er musste Karoline aufsuchen und seine Freude mit ihr teilen. Ohne ihr seinen Besuch anzukündigen, ohne auch nur zu wissen, ob sie zu Hause war, schwang er sich auf das Fahrrad eines Vetters und fuhr im Eiltempo zum Haus der Friedmanns nach Dahlem hinaus. Ein blondes Dienstmädchen, das sächsischen Dialekt sprach, empfing ihn etwas verwirrt an der Tür, es war ja schon später Nachmittag, und rief dann Friede, die den atemlosen Ludwig erstaunt begrüßte. Solche Überfälle waren in ihrem Elternhaus nicht gerade üblich.
Friede bat ihn herein und eilte fort, um Karoline zu holen. Als sie die frohe Überraschung in Karolines Augen sah, verzichtete sie kurz entschlossen darauf, die Gastgeberin zu spielen. Sie führte die beiden nicht ins Wohnzimmer, bot auch keine Getränke an, sondern sagte nur, sie müsse sich beeilen, um rechtzeitig zu einem unaufschiebbaren Treffen zu kommen, und werde erst am späten Abend wieder zu Hause sein. Dann schlüpfte sie in einen leichten Sommermantel, griff nach Strohhut und Schirm und eilte zur Wohnungstür. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um. »Meine Eltern sind übrigens weggefahren und kommen erst morgen zurück. Karoline, du kennst dich in Haus und Küche aus. Ihr werdet schon zurechtkommen. Das Mädchen sorgt fürs Essen.« Damit verschwand sie.
Ludwig war über
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