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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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literarisches Talent ein. Die Familie Kronheim las diese Beiträge mit Genugtuung. Endlich waren die deutschen Juden und sogar die Skeptiker unter ihnen zur Einsicht gekommen!
    Karoline war in diesen Tagen seine Lehrerin und Geliebte. Sie trafen sich beinahe täglich und redeten stundenlang über Gott und die Welt. Karoline war etwas älter als Ludwig, sie war reifer und verständiger als er. Zu Fantastereien und Großmannssucht neigte sie nicht, stattdessen versuchte sie, bei ihm das Interesse an Literatur, Malerei und Kunst zu wecken, und führte ihn auch an philosophische Themen heran. Dadurch hoffte sie insgeheim, ihn von seinem militaristischen Enthusiasmus ein wenig abzulenken.
    Schwieriger war es, sein Verständnis für Musik zu wecken. Karoline war überzeugt, dass Musik einen stärkeren Einfluss auf die Seele und die Stimmung des Menschen ausübte als alle anderen Künste. Doch gerade gegen Musik hegte Ludwig eine tief verwurzelte Abneigung, was Karoline zunächst vor ein Rätsel stellte. Ein sensibler Mensch, der für Literatur, Malerei und Kunst so aufgeschlossen war, hätte in ihren Augen die Musik lieben müssen. Warum hatte ein solcher Mensch eine Aversion gegen Musik?
    Erst allmählich wurde ihr klar, woher seine Abneigung kam. Ludwigs Vater war – teils aus echter Neigung, teils aus Konformismus – ein glühender Wagner-Verehrer. Dessen schwere Musik, die deutsche Mythen feierte und auf die Bühne brachte, war die einzige, die vor Dr.Kronheims Ohren Gnade fand. Ludwig war schon von klein auf regelmäßig von seinen Eltern in einen schwarzen Anzug (zunächst noch mit kurzen Hosen) gezwängt und in die stolze Frankfurter Oper geschleppt worden, wo er »Die Meistersinger«, »Lohengrin«, den »Fliegenden Holländer«, vor allem aber den »Ring des Nibelungen« über sich ergehen lassen und andächtig schauen musste. Auf diese Weise begriff er allerdings nur, warum sein Vater so unsäglich stolz darauf war, dass seine Eltern ihn »Siegfried« genannt hatten. Die Plätze der Kronheims lagen ganz vorne im Ersten Rang, und Ludwig wurde bei Wagners schwülstiger Musik geradezu seekrank. Er fürchtete immer, sich irgendwann erbrechen zu müssen, und schaute ängstlich hinab ins Parkett.
    Als er Karoline von diesem Kindheitstrauma erzählte, musste sie sich ein Lachen verkneifen. Nach einer solchen Schädigung, das war klar, musste sie behutsam vorgehen. Sie versuchte es mit Haydn und Mozart, und Ludwig ging ihr zuliebe gern darauf ein. Heitere Musik zu hören und mit seiner Geliebten zusammen zu sein – das ließ er sich gern gefallen.
    Ludwigs musikalischer Erziehung kam zugute, dass der Musikgenuss nicht nur auf die Oper, Konzertsäle und häusliches Musizieren beschränkt war. Es gab immer mehr Grammofone, zumindest in besser situierten Kreisen. Bei den Familien Schulzendorf und Kronheim nahm das Grammofon einen Ehrenplatz neben dem Telefon ein. Schallplatten waren allerdings teuer. Karoline spannte ihre Freundinnen für ihre Zwecke ein und lieh sich von jeder eine oder zwei Schallplatten. Natürlich nahm sie nicht alles, was ihr angeboten wurde. Sie wählte mit Bedacht nur solche aus, die es Ludwig leicht machen würden, einen Zugang zu klassischer Musik zu finden. Die imposante fünfte Symphonie von Beethoven und eine ähnlich eindrucksvolle Symphonie von Georges Bizet, die Ludwigs Temperament entsprach, brachten den Durchbruch. Eine kraftvolle, mitreißende Musik, die aber nicht so schwülstig und deprimierend wie Wagner war. Dann kam die »Neue Welt«-Symphonie von Antonín Dvo ř ák hinzu, ein Werk, das die Fantasie anregte. Beim Hören dieser Platte sah sich Ludwig auf einem Segelschiff dahingleiten, während am fernen Horizont der geheimnisvolle, verlockende Kontinent Amerika auftaucht. Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt zu Tschaikowsky und Schubert.
    Nur einmal schlug Karolines Versuch fehl, Ludwig für die Musik zu begeistern. Jetzt ist es Zeit für Bach, hatte sie gedacht und lud ihn zu einer Aufführung der Matthäuspassion ein. Doch die Passionsgeschichte erinnerte Ludwig an den religiös geprägten Judenhass und war kein Erfolg. Dieses antijüdische Narrativ deprimierte ihn nicht weniger als Wagner, und Karoline fürchtete nach diesem Rückschlag bereits, dass er sich wieder von der Musik abwenden würde. Da sie ihren Geliebten und seine empfindsame Seele kannte, wählte sie deshalb Werke aus, von denen sie sicher war, dass sie ihn beeindrucken würden: das Requiem von Mozart,

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