Suess und ehrenvoll
das Requiem von Verdi (mit dem schauerlichen Tanz der Toten und Lebenden) und als krönenden Abschluss das Requiem von Hector Berlioz.
»Karoline«, sagte Ludwig auf dem Nachhauseweg, »beim letzten Satz war mir, als hörte ich das Totengebet bei einem echten Begräbnis. Ich hatte das Gefühl, einen geliebten Toten auf seinem letzten Wege zu geleiten und mit ihm ins Grab zu sinken!«
Das wiederum machte Karoline Angst. Heftig umarmte sie Ludwig und presste ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Sie wollte ihn doch nicht traurig machen! Sie hegte vielmehr die Hoffnung, dass er in Zukunft auch bei langer Trennung an sie denken würde, wenn die bekannten Klänge an sein Ohr drangen. Die Musik würde ein immerwährendes, festes Band zwischen ihnen schmieden. Davon war sie fest überzeugt.
8
F RANKFURT AM M AIN
— 1914 —
In der nervenaufreibenden Wartezeit bis zu seiner Einberufung kamen Ludwig viele Geschichten über die Armee zu Ohren. Dabei war ihm bewusst, dass das meiste auf Hörensagen beruhte. Denn bisher war noch kein Frankfurter von der Front, den Rekrutenkasernen oder den diversen Militärschulen auf Urlaub nach Hause gekommen. Allerdings wurden hin und wieder schwer verwundete, darunter sogar arm- oder beinamputierte Soldaten in die Frankfurter Krankenhäuser eingeliefert. Ludwig hatte keine Möglichkeit, sie selbst zu befragen, und sein Vater schwieg eisern, doch diese Verwundeten trugen ihren Anteil zu den kursierenden Gerüchten bei. Was Ludwig zu Ohren kam, stammte meistens aus dritter oder vierter Hand. Geschichten, die im Laufe ihrer Verbreitung verzerrt oder aufgebauscht wurden.
Aber Ludwig erhielt auch einige zuverlässige Informationen. So wusste er, dass er zwei bis vier Monate im Rekrutenlager verbringen würde. Die Dauer der Ausbildung hing davon ab, welcher Einheit er zugeteilt werden würde. Er machte sich auch keine Illusionen, dass die Ausbildung schwere körperliche Anforderungen an ihn stellen würde. Schlimmer noch war die Aussicht auf Schikanen vonseiten der Ausbilder, die zum Teil als regelrechte Sadisten galten. Aber darauf glaubte Ludwig sich seit längerer Zeit innerlich vorbereitet zu haben. Danach würde der eigentliche Wehrdienst beginnen, mit allem Glanz und allen Gefahren, die damit einhergingen. Die Mühsal der Rekrutenzeit würde verblassen vor einer Realität, in der jeder Soldat bereit sein musste, Gesundheit und Leben zu opfern.
Ludwig hatte beantragt, zur Kavallerie eingezogen zu werden. Als geübter Reiter glaubte er, für diese Waffengattung prädestiniert zu sein. Bereits in seiner Kindheit war er regelmäßig geritten, und zwar in einer der bekanntesten Reitschulen Deutschlands, die sich in Sachsenhausen südlich von Frankfurt befand. Dieses sogenannte »Hippodrom« war in einem riesigen, von einer kupfernen Kuppel gekrönten Gebäude untergebracht, das nicht nur etliche Reitbahnen, sondern auch die größte Reithalle Deutschlands enthielt. Die Reitlehrer waren kaiserliche Kavalleristen, nicht wenige von ihnen mit Kampferfahrung. Sie waren nicht gerade befähigt, Amateure das Reiten zu lehren, da sie ihre Schüler hart anfassten und sie mit kurzen, gebrüllten Befehlen dirigierten, anstatt sich auf Erklärungen einzulassen. Mancher Reitschüler musste auch befürchten, dass der Reitlehrer seine lange Peitsche spielen ließ, wenn er seinen Gaul nicht schnell genug in Bewegung setzte. Allerdings war es zur Erleichterung der verängstigten Schüler nicht der Reiter, der die Peitsche zu spüren bekam, sondern das Pferd, obwohl der Reitlehrer die erste Möglichkeit vermutlich vorgezogen hätte.
Für den unerfahrenen Reiter gab es jedoch kaum etwas Schlimmeres, als auf einem Pferd zu sitzen, das vom Reitlehrer mit einem gezielten Peitschenschlag auf die Fesseln angespornt wurde. Das erschrockene Tier sprang vorwärts oder in die Höhe, und man landete nicht selten mit einem schmerzhaften Aufprall auf dem Boden.
Ludwig erinnerte sich noch heute daran, wie sein Pferd eines Tages beim Hindernisspringen ein besonders hohes Hindernis verweigerte und kurz davor abrupt zum Stehen kam. Ludwig, der das Pferd aus Angst nicht kräftig genug angetrieben hatte, verlor das Gleichgewicht und konnte sich nur mit Mühe im Sattel halten. Doch der eigentliche Schreck stand ihm noch bevor. Der Reitlehrer, ein blonder, breitschultriger Hüne in Teilen seiner ursprünglichen Kavallerieuniform, die gezückte Peitsche in der Hand, marschierte mit großen Schritten auf ihn zu,
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