Suess und ehrenvoll
nächsten Tag erschien der Text des Liedes, den Karoline im dunklen Opernsaal gehört hatte, auf den Frontseiten der Zeitungen. Und wer keine Zeitungen las, bekam die Verse von den Zeitungsjungen, die ihre Blätter anpriesen, in die Ohren geschrien.
L iebster, Du kannst Dir nicht vorstellen, was Lissauers patriotisches Lied hier bewirkt. Man singt es auf der Straße. Es gehört zum festen Repertoire der Theater und Opernhäuser im ganzen Land. Es wird in den Cafés gespielt. Heute Morgen las ich einen Artikel in der »Frankfurter Zeitung« aus der Feder von Stefan Zweig persönlich. Er schreibt, Lissauers Gedicht habe eingeschlagen »wie eine Bombe in einem Munitionsdepot«. Es habe schneller die Runde gemacht als »Die Wacht am Rhein«.
Karoline ahnte nicht, dass Ludwig Lissauers Gedicht bereits kannte. Jeder Soldat in der Armee hatte eine Kopie erhalten.
Mit ihrem nächsten Brief hoffte Karoline, Ludwig eine besondere Freude zu machen.
Ihr bekommt die Zeitungen doch immer mit Verspätung, wenn überhaupt. Darum möchte ich Dir nur schnell berichten, dass der Kaiser Ernst Lissauer in sein Berliner Schloss eingeladen und ihm bei einem Festakt vor aller Öffentlichkeit den Roten Adlerorden verliehen hat. Wusstest Du (das fügte sie dick unterstrichen hinzu), dass Ernst Lissauer Jude ist? Und sogar ein erklärter, stolzer Jude!
Ludwig faltete den Brief lächelnd zusammen. Er wusste es sehr wohl. Wochen später, als er sich unter ganz anderen Umständen selbst kaum noch an Berlioz erinnern konnte, las Ludwig in Karolines Brief: Ich dachte nicht, mein lieber Ludwig, dass ich Dir so viel Gefühl für die Musik vermittelt habe. Das macht mich sehr glücklich. Einen Gedanken möchte ich noch hinzufügen, über den ich schon oft nachgedacht habe: Gelegentlich ist Musik die Sehnsucht nach Ehrgeiz, der sich nie verwirklichen wird. › Das‹, sagte sich Ludwig, nachdem er den Satz ein paarmal gelesen hatte, ›wird mir Karoline, wenn wir uns wiedertreffen, besser erklären müssen.‹
10
C HAMPAGNE
— 1914 —
Den langen Weg zur Front in der Champagne legten Ludwig und seine Kameraden erst in Lastwagen, dann zu Fuß zurück. Da man ihnen eingeschärft hatte, dass die ganze Region durch französisches Artilleriefeuer gefährdet war, durften die stundenlangen Nachtmärsche nicht unterbrochen werden. So gab es keine Ruhe und Essenspausen. Nicht einmal, um ihre Notdurft zu verrichten, durften sie anhalten. Wer es nicht mehr aushielt, erleichterte sich im Gehen wie ein Tier. Der Soldat musste dann mit voller Hose weitermarschieren, auch wenn der Kot am Gesäß klebte und der Urin die Haut verätzte.
Je näher die Front rückte, desto unruhiger wurde Ludwig. Die Angst wuchs in ihm. Sie wurde zu einem physischen Schmerz in den Schläfen und in der Magengrube. Es war die beklemmende Furcht vor dem Unbekannten. Einen Vorgeschmack davon hatte er vor dem Sturmangriff auf die Truppen des belgischen Generals Bernheim empfunden. Damals allerdings war die Angst verflogen, weil die Pferde die feindlichen Linien so schnell erreicht hatten. Diesmal dauerte der Marsch zur Front unendlich lange, und die physische Anstrengung des Marschierens mit dreißig Kilo Ausrüstung auf dem Rücken war nicht dazu angetan, seine Angst zu beschwichtigen.
Zu seiner eigenen Überraschung wurde Ludwig viel ruhiger, sobald sie in ihre Stellungen eingerückt waren. Als er keine fünfzig Meter vom Feind entfernt war, ließ seine innere Anspannung von einem Augenblick auf den anderen nach. Er betrachtete das geschäftige Treiben im Schützengraben und das winzige Ecklein, das von nun an für lange Zeit sein Zuhausesein würde, und warf einen beinahe gleichgültigen Blick auf die hölzerne Leiter, die an der Grabenwand lehnte.
Ihm war klar, dass er diese Leiter immer wieder hinaufsteigen und sein Leben riskieren musste. Nicht nur dann, wenn befohlen wurde, die gegnerischen Stellungen anzugreifen, sondern auch, wenn es galt, den Feind zu beobachten und Wache zu halten. Doch die Angst hatte ihren Schrecken verloren, denn nun glaubte er zu wissen, was ihm bevorstand. In den letzten Wochen hatte Ludwig genug Schauergeschichten über das Leben in den Schützengräben gehört. Die Realität, in der er sich künftig würde zurechtfinden müssen, schien ihm nun schon fast vertraut.
Nach einer kurzen Schlafpause wurde die Einheit aufgestellt und für die verschiedenen Aufgaben eingeteilt. Ein Drittel, erklärte der Feldwebel, werde Wache halten, ein weiteres
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