Suess und ehrenvoll
flüsterte der Verwundete mit schwachem Lächeln, ich bin Novize.
D u findest das nicht lustig, liebste Karoline? Das kann ich verstehen. Bei uns gehen Lachen und Weinen oft ineinander über. Hier noch ein Beispiel für ein Lächeln unter Tränen. Den letzten Angriff der Franzosen haben wir nur mit größter Mühe abgewehrt. Sie griffen immer wieder wild entschlossen an und hätten uns fast überrannt, doch schließlich waren auch sie erschöpft und entmutigt wegen der eigenen Verluste. Zwar hatten wir die Front gehalten, doch es kam nicht die geringste Freude auf. Wir waren so ausgepumpt, dass wir beinahe ohnmächtig zu Boden gesunken wären. Ein Blick in die Runde, und die Luft blieb uns weg: Etwa zwei Drittel von unserem Bataillon waren gefallen oder schwer verwundet (die Leichtverletzten nicht mitgezählt). Wenn die Franzosen noch einen einzigen Vorstoß unternommen hätten, wäre es unser Ende gewesen. Wir hockten ein paar Stunden schweigend in unseren Löchern. Keiner brachte ein Wort heraus. Erst dann spürte ich den Hunger. Wir hatten seit dem Beginn des feindlichen Angriffs, also über einen Tag lang, nichts mehr gegessen. Natürlich konnte unter Kampfbedingungen keine Verpflegung geliefert werden. Und dann geschah das Wunder: Die Soldaten, die oben Ausguck hielten, brachen in Freudenrufe aus; sie hatten in der Ferne eine Kolonne von Verpflegungswagen erspäht, die sich im Schneckentempo einen Weg durch das zerbombte Gelände bahnte. »Essen! Es gibt Essen!«, rief einer der Soldaten, dem der Anblick der Kolonne neue Kräfte verlieh. Die meisten von uns brachten nur ein trauriges Lächeln zustande, doch wir spürten, wie das Blut schneller durch unsere Adern floss.
In Heidelberg erzählte mir ein Studienkollege, der sich mit seinen Eltern einige Zeit in Japan aufgehalten hat, eine kleine Geschichte. An glutheißen Sommertagen pflegen die Japaner feine, dünne Glasperlenketten an den Pfosten der Haustür aufzuhängen. Bei der kleinsten Brise, die ein Mensch kaum spürt, geben die Glasperlen ein zartes Klingen von sich, und w er sich im Haus aufhält, hat das Gefühl, einen erfrischenden Windhauch zu spüren. Genau so ein Gefühl hatte ich, als ich hörte, dass die Verpflegungskolonne unterwegs war, obwohl ich wusste, dass es noch lange dauern würde, bis ich etwas zwischen die Zähne bekam. Und doch spürte ich im selben Augenblick schon eine ungeheure Erleichterung.
Als die Verpflegung dann endlich eintraf, stellten wir uns zum Essensempfang auf. Der Koch vom Dienst stand auf seinem Wagen und schüttelte den Kopf: »Hier stimmt etwas nicht. Ich hatte Order, Essen für achthundert Mann zu bringen. Doch selbst wenn ich die Wachen und die Verwundeten mitzähle, komme ich höchstens auf zweihundert Mann. Ich habe viel zu viel Essen!« Der Major, der das Kommando von dem gefallenen Bataillonsführer übernommen hatte, fasste sich ein Herz und befahl dem Koch und seinen Helfern, sich auf der Stelle von den Wagen zu entfernen. Dann rief er uns zu: »Nehmt euch alles, lasst keinen Krümel zurück! Das gehört alles uns. Was für unsere gefallenen Kameraden bestimmt war, ist unsere Beute.«
Beute, dachte ich, wie die Beute, die man vom Feind erbeutet? Doch ich zögerte nicht, brach wie die anderen in Jubelrufe aus und stürzte mich wie von Sinnen auf die, nun ja, auf die Beute, die übrigens darüber hinaus einen Vorrat von Zigarren, Zigaretten und Kautabak enthielt.
Auch damit kann ich Dir kein Lächeln entlocken, Liebste? Vielleicht widert Dich unser Jubel über die Rationen unserer toten Kameraden sogar an? Das könnte ich Dir nicht verdenken. Doch es gibt eben nichts Erfreulicheres oder Amüsanteres zu berichten. Wir lachen selbst über die ordinärsten Witze oder die peinlichsten Begebenheiten. Die Franzosen nennen das »rire jaune«. So passen wir uns unserer neuen sozialen Umgebung an: Kultivierten Soldaten fällt es viel leichter, sich trotz anfänglichem Widerstreben auf die primitive Ebene der Masse herabzubegeben, als der Masse der einfachen Soldaten, s ich zum höheren Niveau einiger weniger Kameraden aufzuschwingen. Daher hat sich unser Leben hier den derben Umgangsformen der Mehrheit angepasst. Dabei ist es keineswegs so, dass die Gebildeten die kultivierteren oder auch nur die besseren Soldaten wären.
Was ich in meiner Freizeit mache, wenn es ruhiger an der Front wird und ich nicht Wache halten muss oder mit Schanzarbeiten beschäftigt bin? Wenn ich nicht schlafe oder Dir schreibe oder immer
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