Suess und ehrenvoll
Drittel übernehme die Instandhaltung und den Ausbau der Stellungen, und das letzte Drittel könne schlafen. Diese Tag- und Nachtroutine werde nur dann unterbrochen, wenn Angriffe oder Gegenangriffe stattfänden. Diese Befehle wurden der Kompanie, die über die gesamte Länge der Schützengräben verteilt war, mit leiser Stimme, fast flüsternd, übermittelt. Zuletzt ermahnten die Abteilungsführer die Soldaten, sich ebenfalls nur im Flüsterton zu unterhalten, damit der Feind nicht mithören konnte. Vor allem war es bei Todesstrafe verboten, sich durch Rufe oder Schreie mit dem Feind zu verständigen.
Als Ludwig sich umsah, fiel ihm auf, dass er seit Tagesanbruch keinen Offizier mehr gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, bis er begriff, was ihm seit seinem ersten Tag in der Armee hätte klar sein müssen: Offiziere waren eine Klasse für sich. Selbst die niedrigen Ränge wohnten auch an der Front in eigenen Quartieren. Für sie wurden hinter den Stellungen tief eingegrabene, durch Bohlen verstärkte Bunker errichtet, die bei Artillerieangriffen weitgehenden Schutz boten. Diese Bunker waren durch Laufgräben mit den Schützengräben verbunden.
Die Offiziere hatten im Gegensatz zu den einfachen Soldaten praktisch immer ein Dach über dem Kopf, und ihre Quartiere waren mit Betten, kleinen Tischen und Lampen ausgestattet. Im Laufe des Krieges kamen auch Radiogeräte, Plattenspieler und natürlich Funkgeräte hinzu. Jeder Offizier hatte einen Burschen, der ihn persönlich bediente. Unter den Soldaten, die als Burschen herhalten mussten, kursierten wilde Klatschgeschichten. Besonders gern wurde die Frage erörtert, wie oft die Offiziere sich getraut hatten, im Schützengraben zu erscheinen oder die Leitern hinaufzusteigen und zum Feind hinüberzuspähen. Ludwigs Nachbarkompanie wurde von einem Leutnant Hans-Joachim von Bodenhof befehligt, von dem sein Bursche erzählte, dass er aus Angst um sein Leben niemals die Latrinen hinter der Frontlinie aufsuchte, sondern seine Notdurft in einen alten Helm verrichtete, den der Bursche dann draußen entleeren und reinigen musste.
Was Ludwig vor allem beschäftigte, waren aber nicht die Offiziere, sondern die Gewöhnung an das Frontleben, die ihn einige seelische Überwindung kostete. Als Rekrut hatte er bereits das gemeinsame Duschen als peinlich empfunden, doch im Schützengraben wäre er froh über eine Dusche gewesen. Hier galt es, sich mit allen möglichen Formen der öffentlichen Entblößung abzufinden. Am schwersten fiel es ihm, seine Notdurft vor aller Augen zu verrichten. Zu diesem Zweck mussten die Soldaten den Schützengraben verlassen und sich hinter den Stellungen erleichtern, was auch bei Dunkelheit gefährlich war, weil der Feind wusste, dass solche nächtlichen Ausflüge unvermeidlich waren, und nicht selten blind ins Gelände schoss, sodass man jederzeit von Granaten oder Granatsplittern getroffen werden konnte. Da es verboten war, allein auszutreten, stiegen die Soldaten in Gruppen aus dem Graben und suchten eine Bodenwelle oder einen kleinen Abhang, der ein wenig Deckung vor dem feindlichen Feuer bot. Dort zogen sie die Hosen herunter und verrichteten ihr Geschäft.
Ludwig brauchte lange, um sich an diese Realität zu gewöhnen, doch nach einiger Zeit trat eine erstaunliche Abstumpfung ein. Wenn er sich seinen zugeknöpften Vater in dieser Situation vorstellte, konnte er ihr sogar einen komischen Aspekt abgewinnen. Er lernte auch, mit seinen Kameraden drastische Witze über dieses Thema zu reißen, während sie mit blankem Hintern den Darm entleerten und manchmal sogar länger als nötig hocken blieben, um sich keine Pointe entgehen zu lassen. Der entsprechende Wortschatz war allen Soldaten geläufig, da die meisten Gespräche sich um einander ergänzende Körperfunktionen wie Essen und Verdauung drehten.
Doch es gab noch weitere Widrigkeiten, an die Ludwig sich gewöhnen musste. Auf Tuchfühlung mit anderen, oft bestialisch stinkenden Soldaten zu schlafen, fiel ihm äußerst schwer. Bei nassem Wetter war der Schlamm so tief, dass sie Rücken an Rücken im Sitzen schliefen. Sie aßen aus einem Blechnapf, den sie nur hin und wieder notdürftig mit Grasbüscheln säuberten, sofern sie welche fanden. Und die Gesellschaft, in der sich Ludwig befand! In seiner neuen Einheit traf er mit einer sozialen Schicht zusammen, mit der er im Privatleben und in der Grundausbildung keinerlei Kontakt gehabt hatte. Mit diesen Arbeiter- und Bauernsöhnen fand er anfangs,
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