Suess und ehrenvoll
Brief, den Dir Rabbiner Nobel überbringen wird, habe ich vor einer Woche geschrieben. Wenn wir uns wiedersehen, werde ich Dir erklären, warum ich ihn nicht gleich abgeschickt habe. Morgen geht es an die Front.
Gestern wurden wir zu einem Konzert eingeladen. Ein mobiles Militärorchester trat auf. Die Soldaten hatten an verschiedenen Konservatorien studiert, es waren junge Musiker, die nicht gerade wie die Frankfurter Philharmoniker spielten, aber auf einem Niveau, das mir voll und ganz genügte. Du weißt ja, wie wenig ich von Musik verstand, bevor Du sie mir nahegebracht hast. Mein Ohr war für Musik etwa so empfänglich wie das von Vincent van Gogh.
Das Konzert war nur schwach besucht. So kurz vor dem Aufbruch an die Front hatten die meisten Soldaten andere Sorgen. Doch ich schloss mich sofort den wenigen an, die sich für den Konzertbesuch gemeldet hatten. Musik ist für mich immer mit dem Gedanken an Dich verbunden. Ich empfinde sie als besonderes Liebesband zwischen uns. Darüber hinaus reizte mich das Programm. Außer Walzern von Strauss und populären Operettenarien wie dem Schlager »Puppchen, du bist mein Augenstern« stand auch ein Werk von Hector Berlioz auf dem Programm. Die »Symphonie fantastique«. Da ich Berlioz durch Dich kennengelernt habe, war das Grund genug, mir das Konzert anzuhören.
I ch habe es nicht im Geringsten bereut, die letzte Gelegenheit zu einer langen Nachtruhe versäumt zu haben. Mir war, als ob Du mit mir zusammen der Musik lauschtest, als ob ich in einem berauschenden Liebesakt mit Dir vereint sei. Ich glaubte, Deine Stimme zu hören, die mir die »Symphonie fantastique« erklärte: ein Werk, das zarten und doch stürmischen Gefühlen entsprungen ist.
Einer meiner Kameraden hier, der adliger Abstammung ist und sich als großer Musikkenner gibt, war nicht gerade beeindruckt. Auf dem Rückweg zu unserem Zeltlager sagte er, das Stück sei vulgär, weil zu viel auf die Pauke gehauen werde.
Bevor ich Dich kannte, hätte ich mich mit meinem mangelnden musikalischen Gehör vielleicht seiner Meinung angeschlossen. Doch da Du mein Ohr geschärft hast und ich das Gefühl hatte, in dem Konzert neben Dir zu sitzen, ließ ich mich von der Symphonie gefangen nehmen. Ich glaubte, ein Leitmotiv herauszuhören, das alle Sätze durchzieht: die Sehnsucht nach der geliebten Frau. Und mit ihr eine Flut des Verlangens und eine Fülle von Träumen und Fantasien. Wellen von Zärtlichkeit und dann wieder Zorn und auch Angst.
Wirst Du aus meinen wirren Reden klug? Vielleicht verwirrten mich nicht nur die gelehrten musikalischen Erklärungen, die Du mir ins Ohr rauntest, sondern vor allem die übermächtige Sehnsucht und Leidenschaft, die mich beim Hören dieser Symphonie durchströmte. Berlioz und Du, Du und Berlioz. Hier an diesem tristen Ort hätte ich mir niemals träumen lassen, dass mir vor dem Aufbruch zur Front ein so bewegender Abschied von Dir beschert sein würde.
In Liebe, ganz und gar der Deine
Ludwig
Karoline schrieb nicht nur über ihre Liebe und ihre Erlebnisse im Studium. Sie ging auch auf andere Themen ein, die Ludwig interessieren könnten – die Atmosphäre in der Heimat, dienach wie vor patriotische Stimmung der Menschen. Mit allerlei Geschichten versuchte sie, ihm zu beweisen, wie recht er mit seinen patriotischen Ansichten hatte. Sie bestärkte ihn in seiner Begeisterung, obwohl sie in Wirklichkeit längst zu zweifeln begonnen hatte.
Gestern war ich mit Friede, die wieder einmal in Frankfurt ist, in der Oper. Es gelingt mir nicht, sie zu trösten. Sie trauert um ihren Verlobten und sorgt sich um ihre drei Brüder. Sie stehen wohl irgendwo an der Front, und es kommt keine Nachricht. Ich versuche, sie abzulenken und aufzuheitern, so gut ich kann. Gestern Abend nun überraschten uns das Orchester und der Chor mit einer nicht sehr opernmäßigen Einlage: einem in Musik gesetzten Gedicht von Ernst Lissauer mit dem Titel »Hassgesang gegen England«. Im Publikum brach ein Beifallssturm los. Die Besucher stampften mit den Füßen, klatschten rhythmisch in die Hände und wollten das Lied immer wieder hören. Ich habe den Text für Dich aufgeschrieben:
»Dich werden wir hassen mit langem Hass,
Wir werden nicht lassen von unserem Hass,
Hass zu Wasser und Hass zu Land,
Hass des Hauptes und Hass der Hand,
Hass der Hämmer und Hass der Kronen,
Drosselnder Hass von siebzig Millionen,
Sie lieben vereint, sie hassen vereint,
Sie haben alle nur einen Feind:
E NGLAND! «
Am
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