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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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wieder dieselben Bücher lese, die ich und meine Kameraden mitgebracht haben, dann spielen wir Karten oder hören den Liedern zu, die manche auf der Mundharmonika spielen (manchmal ertönt sogar Beifall aus den französischen Schützengräben!), und rauchen, rauchen, rauchen …
    Nicht selten habe ich das Bedürfnis, alldem zu entfliehen. Dann ziehe ich mich in mich selbst zurück und träume vor mich hin. Natürlich geht es in fast allen Träumen um Dich. Was ich denn träume, wirst Du fragen. Ich werde Dir ein Beispiel nennen. Letzte Nacht ging meine Wache erst um drei Uhr morgens zu Ende. Ich konnte vor Übermüdung nicht einschlafen. Die Nacht war ungewöhnlich ruhig, sogar das Artilleriefeuer hatte nachgelassen (vielleicht konnte ich nicht einschlafen, weil mir die »Hintergrundmusik« der Granaten fehlte, die uns sonst in unseren Schlaf begleitet). In der ungewohnten Stille hörte ich plötzlich das Gurren von Tauben. Gru, gru, gru, so ging es hin und her, als führten sie lange Gespräche. Die Franzosen halten viele Tauben an der Front. Es heißt, dass sie mit Brieftauben die Kommunikation aufrechterhalten, wenn unsere Artillerie die Funkverbindungen lahmlegt. Überhaupt sind auf der französischen Seite eine Menge Tiere im Einsatz. Als ich einmal während der Wache mit dem Feldstecher zu den Franzosen hinüberspähte, sah ich zu meiner Überraschung ein ganzes Rudel von Hunden, die Lastschlitten und auch Bahren durch den Schnee zogen. Sie haben keine Angst, unser Feuer macht ihnen nichts aus, es sei d enn, sie werden direkt getroffen. Doch zurück zu den Tauben. Ich muss gestehen, ihr Gurren rührt mich, weil es so menschlich klingt. Es klingt so, als rufe ein Mensch nach einem Freund oder einer Freundin. Als werbe er um Liebe oder Verständnis.
    Als ich die Tauben hörte, musste ich daran denken, wie wir in Friedes Haus in Berlin frühmorgens im Bett lagen und den Tauben auf dem Dach lauschten. Und mir kam der Gedanke, dass Du in dieser Nacht vielleicht auch nicht schlafen kannst und das Gurren von Tauben hörst. Es klingt hier und dort gleich, wir hören dasselbe. Und denken vielleicht sogar an dasselbe. Wir verständigen uns ohne Worte. Bei diesem Gedanken stiegen mir heiße Tränen in die Augen.
    Nächste Woche werden wir hier abgelöst. Eine neue Kompanie übernimmt unseren Frontabschnitt. Was von unserer Einheit übrig ist, wird zum Ausruhen zu einer Basis hinter der Front geschickt. Ich denke, dass ich Dir von dort aus weniger deprimierende Briefe schreiben werde.

    Ganz und gar der Deine in inniger Liebe

    Ludwig
    Seit Ludwigs Ankunft in der Champagne im November 1914 war seine Einheit mehrmals abgelöst worden, doch jeweils nur für kurze Ruhepausen in Unterkünften, die zwei bis drei Kilometer hinter der Hauptkampflinie lagen. Immerhin konnten sie die Kleider wechseln, sich waschen, sich einigermaßen geregelt ernähren und vor allem in relativem Komfort schlafen. Sie wurden in halbwegs sicheren Unterständen oder verlassenen französischen Dörfern einquartiert. Die Offiziere waren in den Bauernhäusern, die Soldaten in Scheunen untergebracht, die mehr Platz, aber keinen Schutz vor Artillerieangriffen boten. Nicht selten mussten die Soldaten mitten in der Nacht aus den Scheunen in die überfüllten Unterstände flüchten. Daher wurde befohlen, vollständig angekleidet, mit Stiefeln und Koppel, zu schlafen. Ohnehin dauerten die Ruhepausen nur wenige Tage,bevor man wieder in den Schützengraben zurückmusste. Doch zu Beginn des Jahres 1915 konnten Ludwig und seine überlebenden Kameraden sich auf einen richtigen Urlaub in der Etappe freuen.
    Dafür gab es ein großes Feldlager, das außer Reichweite der feindlichen Artillerie lag und zum größten Teil aus Zelten bestand. Es diente als Versorgungsstützpunkt und Erholungslager für Frontsoldaten. In den festen Bauten, meist beschlagnahmten französischen Bauernhäusern, waren die Befehlsstelle, die Speiseräume, die Offiziersquartiere, die Vorratslager und das Lazarett untergebracht. Doch schon die Zelte erschienen Ludwig und seinen Kameraden wie Luxusvillen. Es herrschte überraschend mildes Wetter, doch vor allem genossen die Soldaten die luftige Unterkunft ohne Schlamm, Verwesungsgeruch und Pulvergestank, die Befreiung von Schanzarbeiten und teilweise auch vom Wachdienst und vor allem die Betten. Es waren nur dicht an dicht aufgeschlagene Feldbetten, aber immerhin Betten! Der Geschützdonner verstummte auch hier nicht, doch er klang so fern, als

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