Suess und ehrenvoll
ginge er die Soldaten nichts an. Ein Paradies auf Erden, und das für eine ganze Woche! Zu seiner Freude entdeckte Ludwig, dass es nicht nur ein Kino, sondern auch eine Lagerbibliothek mit einer großen Auswahl an Büchern, einem Plattenspieler, Schallplatten und Zeitungen aus der Heimat gab. »Bald bekommen wir auch ein Radio«, erzählte ihm der Bibliotheksleiter, »vielleicht schon, wenn ihr das nächste Mal herkommt.«
Zwar herrscht auch hier strenge Militärdisziplin , schrieb er an Karoline, und auch hier gibt es Pflichten zu erfüllen. Wachehalten, das verstehe ich noch, aber wozu die Appelle und das Exerzieren, Stiefelputzen und Uniformbügeln wie in der Rekrutenzeit? Vielleicht will man uns in Spannung halten. Wir sollen nicht vergessen, dass wir Soldaten sind und sehr bald wieder an die Front müssen. Die Dienstuniform, die wir h ier tragen, müssen wir der Kleiderkammer zurückgeben, bevor wir zur Front ausrücken. Wie das Spielzeug, das man in den ärmeren Familien Kindern zu Weihnachten schenkt und sie damit spielen lässt, bis das Fest vorbei ist. Dann packt man es wieder ein und versteckt es auf dem Dachboden, bis zum nächsten Jahr.
Die Lagerbibliothek enthält vor allem Bücher, die ich als Dienstmädchenromane bezeichnen würde, die Art von leichter Lektüre, die von den meisten Soldaten bevorzugt wird, oder Propagandaliteratur, wie sie in den Frankfurter Buch- und Zeitungsläden angeboten wird. Doch man findet auch erstklassige literarische Werke, die erstaunlicherweise zum größten Teil aus dem Ausland und noch dazu aus dem feindlichen Ausland stammen: russische, französische und englische Literatur, zum Teil übersetzt, zum Teil auch in der Originalfassung. Mir ist aufgefallen, dass gerade Bücher aus feindlichen Ländern sehr gefragt sind. Die begehrtesten Autoren sind der Franzose Victor Hugo und der Engländer Charles Dickens. Unsere Propagandaschriften verstauben auf den Regalen.
Während des Erholungsurlaubs trafen neue Rekruten ein, die Ludwigs dezimierte Einheit auffüllen sollten. Ludwig musterte die Neuankömmlinge mit mildem Spott. ›Wie begeistert diese jungen Leute sind!‹, dachte er. ›Genau wie ich vor einem halben Jahr. Warten wir ab, bis sie ihre Feuertaufe erleben und sich vor Angst in die Hosen machen …‹
Einem dieser Rekruten wurde das Feldbett neben Ludwig zugewiesen. Er stellte sich vor: Johann Pfefferberg aus Worms. Ein stiller, zurückhaltender Junge. Auch er schien stolz darauf zu sein, endlich zur kämpfenden Truppe zu gehören. Nur hatte er wie die meisten seiner Kameraden noch nicht begriffen, dass dieses frontnahe Feldlager zwar völlig anders aussah als seine Garnison in der Heimat, aber im Vergleich zum Frontdienst im Schützengraben immer noch ein Eldorado war. Ludwig würdeihm nicht erzählen, was ihn dort erwartete. ›Das wird er früh genug erfahren‹, dachte er. Auch war er nicht auf einen engeren Kontakt aus. Nachdem so viele von Ludwigs Freunden gefallen oder schwer verwundet worden waren, wollte er sich nicht mehr auf engere Beziehungen zu Kameraden einlassen. Je flüchtiger seine Bekanntschaft mit den Gefallenen gewesen war, umso leichter würde er ihren Tod verschmerzen.
Aber nach zwei Tagen sprach Ludwig den jungen Rekruten doch an, da dieser mit seinem seltsamen Verhalten seine Neugier geweckt hatte. »Johann«, fragte er ihn, »was murmelst du da vor dem Einschlafen und frühmorgens beim Aufstehen?«
Johann sah ihn betreten an. »War ich zu laut? Das tut mir leid.«
»Nein, nein, mich stört das nicht«, erwiderte Ludwig, »du warst sehr leise, ich höre nur ein leises Murmeln. Ich will auch nicht indiskret sein, aber ich würde gern wissen, was du da tust. Hältst du Zwiesprache mit deiner Freundin in Worms?«
Johann verzog das Gesicht zu einer verlegenen Grimasse. »Nein, nein«, wehrte er ab, »überhaupt nicht! Ich habe keine Freundin. Ich bin – äh…« Er blickte sich um, überzeugte sich, dass niemand zuhörte, und fuhr leise fort: »Ich bin Jude. Ein frommer Jude. Wir beten dreimal am Tag. Das kann ich hier natürlich nicht. Ich muss auf viele religiöse Gebote verzichten. Im Krieg bin ich nur Deutschland und dem Kaiser verpflichtet. Trotzdem möchte ich meine religiösen Pflichten nicht ganz vernachlässigen. Was du als Murmeln bezeichnest, sind stark gekürzte Gebete. Gestern hast du mich summen hören, weil Sabbat war. Wir heiligen den Samstag, so wie ihr den Sonntag, und deshalb habe ich versucht, ein paar Sabbatgesänge
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