Suess und ehrenvoll
ich jetzt für nebensächlich, und die Bedeutung, die ich ihnen beigemessen habe, erscheint mir lächerlich und grotesk. Ich denke dabei an Prüfungsnoten an der Schule oder Universität, die für mich eine lebenswichtige Frage waren. An das Verhältnis zu meinem Vater, das mir jede Freude verderben und mich tief erschüttern und deprimieren konnte. Ein kurzlebiger Zeitungsartikel, der meinen Ansichten widersprach oder meine Gefühle verletzte, raubte mir oft den Schlaf. Das ist jetzt Vergangenheit. Das Leben an der Front, wo fast jeder Augenblick tatsächlich schicksalhaft ist, hat mich gelehrt, die Dinge in den richtigen Proportionen zu sehen und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Jetzt weiß ich eher, worauf es ankommt und woran ich glauben soll. Mein Glaube an die Zukunft der Juden in diesem Land hat eine neue, weniger romantische und dafür realere Dimension erhalten. Und vor allem habe ich erfahren, was mir unsere Liebe bedeutet. Die Vereinigung unserer Körper und unserer Seelen. Auch vor dem Krieg war ich überzeugt, dass ich dich mit allen Fasern meines Herzens liebe. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass wir Hand in Hand in eine gemeinsame Zukunft gehen. Inzwischen sehe ich unsere Verbindung realistischer. Jetzt weiß ich nur eines: Dass es nichts Echteres und Tieferes gibt als unsere Liebe. Und ich weiß auch, dass sie mir wichtiger ist als alles andere. Nein, das ist nicht wahr: Nicht unsere Liebe ist das Wichtigste in meinem Leben, sondern du, Karoline. Siehst du? Ich habe mich doch geändert.«
Praktisch der Erste, dem Ludwig im Sammellager in die Arme lief, war sein Kamerad Adalbert, der ihn freundlich begrüßte. Ludwig freute sich über das Wiedersehen. Er klammerte sich an den Kameraden, bestürmte ihn mit Fragen über seine Erlebnisse im Urlaub und erzählte ihm alles, was er erlebt hatte, bis in kleinste und banalste Detail – all dies, um seinen Gedanken zu entfliehen und den Schmerz zu übertönen, in den ihn der Abschied von Karoline gestürzt hatte.
Erst zwei Tage später erfuhr er, was das Ziel ihrer Reise war: nicht die Champagne, sondern ein Ort namens Verdun, von dem er noch nie gehört hatte …
14
F RANKREICH
— 1914 —
Als Louis im Ausbildungslager ankam und seine Grundausrüstung erhielt, verflogen seine Ängste rasch. Er betrachtete sich in seiner neuen Uniform im Spiegel, und sein Herz schwoll vor Stolz. Mit dem feschen Käppi, dem blauen Waffenrock, der roten Hose und den Schnürstiefeln mit Gamaschen sah er richtig schneidig aus. Sein Kopf schwirrte vor Geschichten aus der ruhmreichen militärischen Vergangenheit seines Landes, die er in der Schule oder zu Hause gehört hatte. Wie stolz war er, Soldat zu sein! Ein französischer Soldat!
Die harte Grundausbildung sollte ihm die Illusionen bald austreiben. Der brutale Drill, die unerbittliche Disziplin, anstrengende Übungen und schlaflose Nächte ließen die glorreiche Aura des militärischen Lebens verblassen. Louis hatte das Gefühl, er würde bis in alle Ewigkeit unter chronischem Schlafmangel leiden. Die endlosen Fußmärsche mit fast dreißig Kilo Ausrüstung auf dem Buckel waren ein Albtraum. Wenn der Tornister anfangs seinen Träger voranzutreiben schien, so wog er nach einer Weile so schwer, dass der Rekrut das Gefühl hatte, nach hinten gezogen zu werden. Louis kam zu der Erkenntnis, dass er viel mehr ertragen konnte, als er je geglaubt hätte. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass er bei diesen mörderischen Gewaltmärschen durchhalten würde. Das Tempo wurde ständig gesteigert, die Entfernungen wuchsen. Seine Leidensfähigkeit überraschte ihn täglich aufs Neue. Immer weniger Schlaf, immer mehr und härtere Übungen.
An einem Tag, der strapaziöser gewesen war als alles, was sie bisher erlebt hatten, bekamen die Rekruten nach einem hastigeingenommenen Frühstück bis zum späten Abend kein Wasser und keine Verpflegung. Einer der Männer in Louis’ Einheit schimpfte, die Armee sei so unorganisiert, dass sie nicht einmal ihre Rekruten verpflegen könne. Der Feldwebel, dem diese Beschwerde zu Ohren gekommen war, sagte zu den Rekruten: »Unser junger Freund hier, der sich noch keine Sporen verdient hat, sollte sich eines merken: Es geht hier nicht um mangelnde Organisation, sondern um das genaue Gegenteil. Rekruten werden absichtlich zum Aushalten und Erdulden erzogen! Dazu gehört es auch, Hunger und Durst zu ertragen, und gerade unter schweren Bedingungen.« Der Feldwebel hatte nicht streng,
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