Suess und ehrenvoll
hat er gesagt, ›ich bin Jude.‹« Ludwig musste einen Schluck Wein trinken. »Ich bin vorher nie auf den Gedanken gekommen, dass auf der anderen Seite auch Juden kämpfen«, sagte er.
Während er sprach, schien die Atmosphäre im Raum zu gefrieren. Karoline hörte, dass einer der Gäste seinem Tischnachbarn zuflüsterte: »Verbrüderung mit dem Feind? Ist das nicht Verrat?«
Ohne auf die allgemeine Stimmung zu achten, fuhr Ludwig fort: »Ich habe auf der Heimfahrt einen jüdischen Bekannten aus Frankfurt getroffen. Er wohnt im Ostend und heißt Otto Frank. Als ich ihm von meiner Begegnung erzählte, hat er gesagt, er habe drei Vettern in Frankreich, die alle in der Armee dienen. ›Und was machst du, wenn du ihnen auf dem Schlachtfeld begegnest?‹, hab ich ihn gefragt. Er hat mit den Achseln gezuckt. ›Nichts. Sie sind französische Soldaten. Ich würde sie abknallen wie jeden anderen Franzmann.‹«
Das gefiel Dr.Kronheim schon besser. »Ich kenne die Familie Frank«, warf er ein, »eine der ältesten jüdischen Familien von Frankfurt und vorbildliche deutsche Patrioten.«
»Was ist aus Ihrem Franzosen geworden, dem Sie am Heiligen Abend begegnet sind?«, fragte eine der Damen. »Haben Sie noch einmal von ihm gehört?«
»Er ist tot«, fiel ihr Dr.Kronheim ins Wort, »Ludwig hat ihn gleich am nächsten Morgen erschossen, als der Krieg weiterging.« Die Gäste lachten beifällig und wandten sich anderen Gesprächsthemen zu.
»Ich geh jetzt«, flüsterte Ludwig, »und zwar sofort!« Karoline warf einen hastigen Blick in die Runde. Ihr war klar, dass es einen schlechten Eindruck machen würde, wenn Ludwig vorzeitig ging, ganz zu schweigen von einem gemeinsamen Aufbruch.
Mutter Selma hatte Ludwig den ganzen Abend beobachtet, obwohl sie damit beschäftigt gewesen war, den beiden Dienstmädchen beim Servieren zu helfen. Sie kannte ihren sensiblen Sohn und wusste, dass er gleich explodieren würde. Es galt, schnell zu handeln. Kurz entschlossen stand sie auf und bat ihre Gäste, ihren Sohn Ludwig nun zu entschuldigen. »Unser Soldat leidet unter einem extremen Schlafmangel, und ich möchte ihm dazu verhelfen, dass er in seinem kurzen Urlaub auch wirklich zur Ruhe kommt, damit er in besserem Zustand zur Front zurückkehren kann. Entschuldigen Sie uns bitte.« Sie zupfte Ludwig am Ärmel und drohte ihm mit gespielter Strenge mit dem Finger: »Keine Widerrede! In diesem Haus bist du kein Kriegsheld, sondern mein Sohn, und ich verordne dir, schlafen zu gehen.«
Dr.Kronheim verschlug es die Sprache. Wo nahm seine Frau diese Dreistigkeit her? Während Ludwig sich mit einem Händedruck von den Gästen verabschiedete, warf seine Mutter Karoline einen Blick zu. Bleiben Sie sitzen, hieß das, ich regle das schon. Karoline nickte unmerklich. Selma zog Ludwig am Ärmel und führte ihn in sein ehemaliges Zimmer. »Bleib hier«, sagte sie leise, »ich werde den Gästen schon klarmachen, dass es reichlich spät ist. Wenn sie fort sind, kannst du gehen und Karoline mitnehmen. Sie hat schon verstanden und wartet auf dich.«
Zwei Wochen Urlaub vergingen wie im Fluge. Obwohl Ludwig und Karoline fast die ganze Zeit zusammen waren, hatten sie das Gefühl, sich noch längst nicht alles gesagt zu haben. Sie waren auch nicht dazu gekommen, über ihre gemeinsame Zukunft zu reden. »Wir hatten nicht genug Zeit«, erklärten sie einander. In Wirklichkeit lag die Sache anders: Sie wussten nicht, was sie über ihre Zukunft sagen sollten. Beiden war klar, was sie erhofften, aber wie kann man Gefühle in klare Worte fassen, wenn die Zukunft so unsicher ist?
Den letzten Abend musste Ludwig im Sammelquartier in der Festhalle verbringen. Die Soldaten sollten noch in der Nacht zum Bahnhof gebracht werden und von dort aus den langen und mühseligen Rückweg zur Front antreten.
Karoline kämpfte tapfer mit den Tränen und rang sich ein mühsames Lächeln ab. »Liebster Ludwig«, sagte sie, »zu Beginn deines Urlaubs habe ich dir gesagt, dass du dich nicht geändert hast, im positiven wie im negativen Sinn. Jetzt bitte ich dich inständig: Ändere dich auch in Zukunft nicht. Bleib, wie du bist, bleib immer du selbst.«
»Du irrst, mein Herz«, widersprach Ludwig. »Ich habe mich doch geändert. Nicht in allem, aber in einer wesentlichen Hinsicht, und ich sehe in dieser Änderung einen großen Fortschritt. Wenn ich zurückblicke, kann ich mich nur über die Dinge wundern, die ich früher für wichtig gehalten habe. Fast alle diese Dinge halte
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