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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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schier vergessen hatten. »Und was sagt unser Kriegsheld dazu?«, wollte einer der Herren wissen. »Wie steht es um den Krieg? Wie wird er weitergehen?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Ludwig verlegen. »Im Schützengraben hat man keine Ahnung, wie der Krieg verläuft. Wir wissen kaum, was an unserem eigenen Frontabschnitt passiert.« Als Ludwig die enttäuschten Gesichter sah, versuchte er, ein wenig konkreter zu werden: »Was wir hören, sind eine Menge Gerüchte. Viele behaupten, sie wüssten über den Verlauf des Kriegs und die generelle Strategie Bescheid. Das sind im Allgemeinen Soldaten, die Kontakt zu Offizieren haben, als Fahrer oder Bedienstete in der Offiziersmesse, wenn es eine solche gibt. Sie hören da und dort Gespräche unter den Offizieren mit. Ob sie das Gehörte verstehen, ist ihnen gleichgültig. Es kommt ihnen nur darauf an, sich mit ihrem Wissen zu brüsten. Wollte man ihnen glauben, hätten wir schon hundertmal gesiegt. Ich glaube nicht, dass Sie solche Berichte von mir hören wollen.« Ludwig hatte ein allgemeines Gelächter erwartet, doch niemand lachte. Die einzige Reaktion waren bestürzte Blicke.
    Dr.Kronheim missfiel die Richtung, die das Gespräch genommen hatte, und er versuchte, die Stimmung mit einer patriotischen Anekdote zu retten: »Natürlich werden wir gewinnen. Wir kennen ja unsere Franzosen. Kennen Sie die Geschichte von dem mutigen französischen Leutnant, der seinen Soldaten im Schützengraben befiehlt, die deutschen Stellungen zu stürmen? Als alle mit aufgepflanztem Bajonett am Grabenrand angetreten sind, ruft er: ›En avant!‹ , springt aus dem Graben und läuft auf den Feind zu. Nach ein paar Sekunden merkt er, dass er allein ist. Niemand ist ihm gefolgt. Er blickt sich um und sieht seine Soldaten im Graben stehen. Sie klatschen ihm Beifall und schreien: ›Bravo, bravo!‹«
    Diesmal brachen zu Dr.Kronheims Zufriedenheit alle in lautes Gelächter aus. Nur Ludwig saß wie erstarrt. Karoline, die schon immer empfindlich auf patriotischen und militaristischen Gefühlsüberschwang reagiert hatte, warf ihm einen besorgten Blick zu. ›Er ist kreidebleich‹, dachte sie erschrocken. ›Ist ihm übel? Wird er sich übergeben? Oder womöglich das Haus verlassen?‹
    In der Hoffnung, die Atmosphäre ein wenig zu entspannen, mischte sie sich in das Gespräch der Männer. »Ludwig«, sagte sie mit lauter Stimme, »erzähl uns doch von dem seltsamen und wunderbaren Weihnachtsabend. Das ist eine der unglaublichsten und schönsten Geschichten, die ich je gehört habe.«
    Ludwig zögerte ein wenig, während ihn alle erwartungsvoll ansahen. Sollte er diese Geschichte tatsächlich vor diesen Hohlköpfen ausbreiten? »Ja«, sagte er schließlich. »Das war ziemlich seltsam. Es war am 24. Dezember, am Heiligen Abend.« Er stockte. Am Weihnachtsabend hatte an der Front Stille geherrscht. Auf beiden Seiten ruhten die Waffen. Es hatte geschneit, alles war weiß, und die Soldaten in den Schützengräben hatten große Not, beim reglosen Sitzen nicht zu erfrieren. Vor Ludwig und seinen Kameraden lagen die Geschenkpakete, die aus der Heimat gekommen waren. Noch zögerten sie, die Pakete zu öffnen. Sie wollten sich die Freude ein wenig aufsparen. Zu lange durfte man damit nicht warten, weil niemand wusste, ob die Gefechtspause nicht bald zu Ende sein würde.
    Einer der Soldaten summte »Stille Nacht, heilige Nacht«. Nach und nach stimmten andere ein. Erst summten sie mit, dann sangen sie leise. Als schämten sie sich. Als passe das feierlich fromme Lied nicht zu diesem Ort. Und dann hörten sie, dass auch in den französischen Schützengräben, nur ein paar Dutzend Meter entfernt, ein Lied angestimmt wurde. Auch dort wurde so zögernd und leise gesungen, dass sie die Worte nicht hören konnten, doch die Melodie war dieselbe. Die Soldaten sahen sich überrascht an. Sie sagten nichts, aber es war klar, dass sie dasselbe dachten: ›Wie, auch sie? Auch für sie ist jetztWeihnachten? Mit denselben Liedern?‹ Einige Mutige hoben den Kopf über den Grabenrand, um sich zu vergewissern, dass sie nicht geträumt hatten. Und als kein Schuss fiel, als niemand sein Zielfernrohr auf sie richtete, klangen ihre Stimmen zuversichtlicher. Der Gesang wurde lauter, die Scheu war verflogen. Auch auf der gegnerischen Seite lugten erst wenige, dann immer mehr Köpfe aus den Schützengräben hervor. Auch auf sie wurde nicht geschossen. Und dann geschah das Unglaubliche: Wie auf den Einsatz eines unsichtbaren

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