Suess und ehrenvoll
Dirigenten erklangen aus allen Schützengräben Weihnachtslieder. Der Gesang schwoll an und brach nicht mehr ab: Immer neue Lieder mit den gleichen oder ähnlichen Melodien, bis – wie auf ein geheimes Zeichen – die Soldaten aus ihren Schützengräben kletterten und zögernd aufeinander zugingen. Singend, mit brennenden Kerzen in der Hand. Hie und da brachten sie einige Tische und stellten sie im Niemandsland auf. Andere stellten Kerzen darauf und einige auch Geschenkpakete. Die Soldaten sahen sich ungläubig an. Was da geschah, war ein Wunder. Niemand hatte Angst.
Ludwig hatte fassungslos und erschüttert mit einer Kerze in der Hand bei den Kameraden gestanden. Die Franzosen standen zum Greifen nahe vor ihm. Er musterte schweigend die »Erzfeinde« seines Vaterlands. Ein Soldat fiel ihm auf, der die anderen um Haupteslänge überragte. Auch er hielt eine Kerze, doch er bewegte die Lippen nicht, genau wie Ludwig. Nach ein paar Minuten ging Ludwig auf ihn zu und flüsterte ihm auf Französisch zu: »Entschuldigen Sie, darf ich so indiskret sein und fragen, warum Sie nicht mitsingen?«
Der Franzose sah ihn überrascht an und sagte leise: »Ich kenne diese Lieder nicht gut genug. Gehört habe ich sie manchmal, aber ich kann sie nicht auswendig. Ich bin Jude.« Ludwig traute seinen Ohren nicht. Auch auf französischer Seite kämpften Juden? Das hatte er sich noch nie überlegt. Wie kam es, dass er und seine jüdischen Freunde niemals an die Möglichkeit gedacht hatten, dass sie im Krieg andere Juden umbringen müssten? Wo war die viel beschworene jüdische Schicksalsgemeinschaft? Komisch, selbst die Feldrabbiner hatten zu diesem Thema nie etwas gesagt.
Doch sogleich meldete sich eine andere Stimme: Nein, da gibt es kein Dilemma! Man ist Deutscher, und wer einem im Feld gegenübersteht, ist ein feindlicher Soldat, mehr nicht.
Aber Ludwig konnte die Augen nicht von dem hochgewachsenen Juden abwenden. Dessen Gesichtsausdruck und dessen Blick verrieten seine innere Bewegung, als Ludwig sich vorstellte und bekannte, dass auch er Jude sei.
»Ich heiße Louis, Louis Naquet«, sagte der Franzose und gab ihm die Hand.
Als die Lieder verklangen, standen die Soldaten beider Seiten noch eine Weile beieinander. Keiner wollte gehen. Einige unterhielten sich im Flüsterton. Von den Franzosen sprachen nur die allerwenigsten Deutsch, und die meisten Deutschen konnten nicht genug Französisch. Doch das Schweigen hatte noch einen anderen Grund: die unvorstellbare und unerklärliche Situation, in die sie geraten waren. Ludwig und Louis wechselten ein paar Worte über die Religion, die in ihrer beider Leben keine besondere Rolle spielte. Ludwig sagte lächelnd, er habe mit dreizehn seine Bar-Mizwa gefeiert, aber nicht viel davon verstanden, und Louis bestätigte, dass es bei ihm nicht viel anders gewesen sei. Es war mehr das Fest ihrer Eltern gewesen; sie hatten als Kinder ihre Rolle gespielt und die mühsam auswendig gelernten hebräischen Worte deklamiert. Ludwig erzählte von seiner Familie und seinem Studium an der Universität, Louis von der kleinen Bäckerei seiner Eltern.
»Ich wollte schon immer mal nach Bordeaux«, sagte Ludwig. Lächelnd fügte er hinzu: »Wenn wir Frankreich besetzt haben, dann komme ich dich besuchen.«
»Um meine Heimat zu besuchen, brauchst du keinen Krieg«, sagte Louis.
Irgendwann, wieder ohne erkennbares Zeichen, zogen sich die Soldaten mit ihren Offizieren zurück und gingen langsam und bedächtig zu ihren Schützengräben. Louis und Ludwig schieden ohne Händedruck voneinander. Sie tauschten nur einen Abschiedsblick und folgten, wie von fremder Hand geführt, ihren Kameraden.
»Na, was ist?«, rief Ludwigs Vater. »Willst du nun erzählen oder nicht?«
»Ja«, sagte Ludwig. »Es war am Heiligen Abend. Es war ein heller, sonniger Tag. Die Front war ganz ruhig. Seit dem frühen Morgen war noch kein Schuss gefallen. Und plötzlich rief eine Stimme aus dem französischen Graben: ›Fröhliche Weihnachten! Lasst uns die Toten begraben!‹ Und obwohl es streng verboten war, haben ein paar Kameraden geantwortet. Innerhalb von Minuten standen wir vor dem Graben, und die Franzosen sind uns entgegengekommen. Sie haben gewinkt, und wir haben zurückgewinkt. Wir haben uns die Hände gereicht, wir haben die Toten geborgen, wir haben gesungen, und wir haben gebetet. Ich habe mit einem jungen Mann gesprochen, der war aus Bordeaux. Sein Vater war Bäcker. ›Eigentlich feiere ich Weihnachten gar nicht‹,
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