Suess und ehrenvoll
Schritt und Tritt lauter Affen begegnen? Du sitzt im Café, und am Nebentisch sitzt ein Affe. Du gehst ins Theater, und rechts und links von dir sitzen Affen. Im Zug steigen sie in deinen Wagen, sitzen neben dir in deinem Abteil. Und jetzt kämpfen sie nicht nur mit uns an der Front, sondern erteilen uns auch noch Befehle! Das ist unerträglich.«
Früher wäre ich entsetzt davongelaufen, wenn jemand solche Bemerkungen gemacht hätte. Ich wäre zutiefst beleidigt gewesen. Es hätte mich krank gemacht, ja, beinahe physisch krank, und ich hätte Tage gebraucht, um darüber hinwegzukommen.
Doch diesmal sagte ich lächelnd: »Du bildest dir zu viel a uf dein Unterscheidungsvermögen ein. Da lebst du nun seit Monaten in nächster Nähe eines Affen, du hast dich sogar mit ihm angefreundet und nicht einmal gemerkt, dass er ein Affe ist.«
Da er mich verständnislos ansah, fügte ich hinzu: »Jean-Marie, ich bin Jude.« Damit kehrte ich ihm den Rücken und ging meines Weges. Ich war zufrieden mit mir und meiner Antwort.
Habe ich mich nun wirklich grundlegend verändert? Bin ich ein anderer Mensch geworden? Bin ich heute weniger empfindlich? Ganz gewiss! Bin ich härter geworden? Ich weiß es nicht. Vielleicht abgestumpft? Oder herzlos? Nein, das bin ich nicht. Dessen bin ich ganz sicher. Und ich will Euch auch sagen, warum: Was mich in den letzten drei Monaten mit allen ihren Schrecken am meisten erschüttert, was mir die schlimmsten Albträume verursacht, sind nicht die Leiden des Krieges, die ich erdulden musste, und auch nicht die zerfetzten Leichen meiner gefallenen Kameraden, sondern die Bilder von den Flüchtlingskolonnen, die mich verfolgen. Die Bilder von Frauen, Kindern und Alten mit ihren elenden Bündeln auf dem Rücken, die sie irgendwann am Wege liegen lassen, weil ihre Kräfte nicht ausreichen. Das Weinen. Ein lautloses Weinen. Die Verzweiflung auf ihren Gesichtern, die Trostlosigkeit. So tappen sie dahin, ohne Sinn und Ziel, und lassen eine Welt hinter sich, die über ihnen zusammengebrochen ist. Und immer wieder die Gnadenschüsse der Gendarmen, die einen Sterbenden von seinem Leiden erlösen. Kurz, es ist das Elend der Flüchtlinge, das mir die Ruhe raubt, nicht die Kriegsgräuel und das Leiden der Soldaten und meine eigenen Nöte.
Meine Lieben, während ich diese schmerzlichen Zeilen schreibe, wird mir klar, dass ich gewiss nicht der Einzige bin, der so empfindet. Mit meinen Kameraden habe ich nicht darüber gesprochen, aber mir scheint, dass die meisten meine Ge f ühle teilen. Keiner von uns hat den Mund aufgemacht, als wir diese schrecklichen Szenen sahen. Aber vielleicht haben sie etwas in uns geweckt, was ich wahren Heldenmut nennen würde. Der Anblick der Flüchtlingsströme hätte auch einen anderen Einfluss auf uns ausüben können. Er war der schmerzlichste Aspekt der Niederlage. Wir hätten verzagen können, wir hätten den Rest unserer Kampfmoral einbüßen können. Aber das ist nicht geschehen. Gerade diese schlimmsten Tage haben unser Durchhaltevermögen gestärkt. Nicht, dass wir uns dessen bewusst gewesen wären, aber jetzt wird mir rückblickend klar, dass diese Szenen aus Dantes Inferno (das Du, Vater, immer im Zusammenhang mit Tragödien und Katastrophen erwähnt hast) uns die Kraft gegeben haben, an der Marne unseren Mann zu stehen. Sie waren es, die uns Heldenmut eingeflößt haben, wenn es denn so etwas gibt.
Meine liebe Familie, ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke. Ob ich meine Gedanken geordnet zu Papier bringe. Vater hätte dazu sicher etwas zu sagen. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ich meine Menschlichkeit noch nicht verloren habe. Weder ich noch die meisten meiner Kameraden. Wenn ich trotz meiner miserablen Lage imstande war, Mitleid zu empfinden und zu fühlen, dass andere Menschen noch mehr leiden als ich, so spricht das dafür, dass ich bisher vor dem Absturz in die Entmenschlichung bewahrt geblieben bin.
Seht Ihr das auch so? Habt Ihr überhaupt etwas von meinen langen Tiraden verstanden? Bitte schreibt mir, was Ihr davon haltet! Ich möchte sicher sein, dass ich nicht verrückt bin.
Euer Sohn Louis
Im Dezember 1914 wurde Louis’ Regiment (oder vielmehr das, was davon noch übrig war) an die Front in der Champagne verlegt. Vom Dezember bis Ende März 1915 rannten die Franzosen immer wieder gegen die deutschen Stellungen an der Aisne und am Chemins des Dames an, aber wenn es ihnen gelang, diedeutschen Linien zu durchbrechen, hielt der Erfolg nicht lange
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