Suess und ehrenvoll
freiwillig zur Front gemeldet.
Während wir noch redeten, begannen die Deutschen zu schießen. Ein paar unserer Leute waren gerade damit beschäftigt, die Stacheldrahtverhaue zu reparieren, und hatten keine Zeit mehr, in den Schützengraben zu springen. Einer wurde am Zaun getroffen und sank blutüberströmt zu Boden. Er schrie nicht um Hilfe. Er rief nicht nach dem Arzt. Er wollte nur einen Priester, der ihm die Absolution erteilen konnte. »Absolution!«, rief er. »Ich will die Absolution!« Aus irgendeinem Loch sprang ein junger Feldkaplan und rannte in fast aufrechter Haltung zu ihm hin. Binnen Sekunden hatte er eine Kugel im Kopf und lag leblos am Boden.
Der Verwundete hatte nicht gemerkt, was passiert war, und flehte immer noch: »Absolution! Absolution!« Dann sah ich zu meiner größten Überraschung, dass Rabbiner Vidal auf die Leiter stieg, um aus dem Graben zu klettern. Ich begriff gar nicht, was er vorhatte. Der Rabbiner, der wohl kein militärisches Training absolviert hatte, krabbelte auf allen vieren zu dem toten Feldkaplan, nahm ihm das Kreuz ab, kroch weiter zu dem Verwundeten und hielt ihm das Kreuz an die Lippen. Als Vidal zu unserem Graben zurückkam, hat ihn eine Kugel in die Schulter getroffen.
E rst da habe ich gemerkt, dass ich nicht der einzige Zuschauer bei diesem seltsamen Schauspiel war. Fast alle meine Kameraden standen auf Zehenspitzen am Grabenrand und verfolgten wie gebannt das Geschehen. Sie sagten kein Wort, sondern zogen nur den verwundeten Rabbiner schnell in den Graben hinein. Ich habe einen Augenblick gebraucht, um zur Besinnung zu kommen, doch dann stürzte ich zu Vidal hin und half dem Sanitäter, ihn in Sicherheit zu bringen. Im Bunker konnte ich noch ein paar Worte mit ihm wechseln, bevor er das Bewusstsein verlor. Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen. Doch ich hörte, dass er außer Lebensgefahr ist. Nachträglich besehen, frage ich mich, welchen Eindruck die Tat dieses »Affen« auf Jean-Marie gemacht hat. Er war unter denen, die das Geschehen verfolgt haben. Doch das werde ich wohl nie erfahren, da wir nicht mehr miteinander reden.
Seltsam. Sehr seltsam, was hier geschieht. Wenn die feindlichen Geschütze uns ein wenig Ruhe ließen, würde ich vielleicht gründlicher darüber nachdenken. Dann könnte ich Dir, lieber Vater, meine Gedanken in angemessener Form mitteilen.
Viele Küsse an alle
Euer Louis
Gegen Ende des ersten Kriegsjahres überkam Louis eine tiefe Melancholie. An Weihnachten hatte er ein seltsames, ergreifendes Erlebnis, als sich plötzlich ein Waffenstillstand über die Gräben senkte. Doch er schrieb seinen Eltern nichts darüber. Er wollte ihnen davon erzählen, wenn er sie wiedersah.
Ansonsten machten die Feiertage Louis nur noch trauriger. Hatten sie nicht alle geglaubt, sie würden »Weihnachten wieder zu Hause« sein? Inzwischen hatte sich längst herausgestellt, dass dies eine Illusion war. Allerdings hatte Louis wie die meisten anderen damit gerechnet, dass er wenigstens Urlaub bekommen würde. An diese Hoffnung hatten er und seine Kameraden sich geklammert wie Ertrinkende an einen Strohhalm. Doch dann gingen die Feiertage vorbei, und die Aussicht auf den Urlaub schwand dahin. Alles blieb beim Alten, abgesehen davon, dass der ewige Schlamm jetzt von Schnee bedeckt war. Die Kleider waren so schlammverkrustet, dass sie eine undefinierbare, von Läusen und Flöhen bevölkerte Masse bildeten, und sie trockneten nur, wenn es Frost gab, weil die Frostluft zwar kalt, aber trocken war.
Der Himmel hing voll dunkler Wolken, aber der reine, weiße Schnee war ein wohltuender Anblick. Doch gerade die winterliche Idylle und der krasse Gegensatz zu einer Realität, die sich zwischen Schützengräben und Trommelfeuer abspielte, deprimierte Louis noch mehr. Das Heimweh plagte ihn ständig. Er starrte in die Luft und stellte sich seine Heimatstadt vor, die um diese Jahreszeit immer warm und festlich geschmückt war. Mit einem bitteren Lächeln dachte er daran, mit welcher Begeisterung seine Familie und die ganze jüdische Gemeinde von Bordeaux das Chanukka-Fest feierten. Sein Vater hatte ihm und seinen Schwestern erklärt, dass Chanukka kein wichtiges jüdisches Fest gewesen war, bis die Juden im Zuge der Aufklärung das Ghetto verließen und Chanukka zu einem zentralen Fest aufwerteten, das eine Brücke zum Weihnachts- und Neujahrsfest und in einem weiteren Sinne auch zu einer echten Emanzipation der Juden schlug. Das parallele Feiern des christlichen
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