Suess und ehrenvoll
an. Letzten Endes eroberten die Deutschen die verlorenen Stellungen zurück. Ihre eigenen Versuche, die französische Front aufzubrechen, waren seltener. Alle Ansätze zu einer Offensive endeten in einem gewaltigen Blutvergießen auf beiden Seiten, das keine wesentlichen Änderungen der Frontlinien bewirkte. Ende Dezember schrieb Louis:
Liebe Maman, lieber Papa,
seit fast einem Monat liege ich an einer anderen Front (deren geografische Lage ich Euch nicht verraten darf), doch unser Leben hat sich nicht verändert. Dieselben Schützengräben, derselbe Schlamm und Gestank. Derselbe Feind und diesel b en gegenseitigen Angriffe. Der einzige Unterschied ist, dass meistens wir angreifen. Doch letztlich macht das keinen großen Unterschied in unserer täglichen Routine.
Unsere Offiziere versuchen, uns mit verschiedenen und manchmal seltsamen Mitteln zu motivieren. So ist beispielsweise eine vermehrte Präsenz von Geistlichen zu beobachten. Anscheinend glaubt jemand, dass wir unser schweres Los besser ertragen, wenn man Soutanenträger auf uns loslässt. Schließlich sind sie ja dazu da, Trost zu spenden … Ich schreibe dies mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. Vor zwei Wochen half ich, einen Soldaten mit einer schweren Kopfverletzung in einen Bunker hinter den Linien zu tragen. Bei einem Artillerieangriff des Feindes hatte ein Geschoss die gefrorene Erde vor unserem Schützengraben getroffen und einen Hagel von schweren Brocken aus Eis und Erde ausgelöst. Solche Brocken können einem den Schädel spalten. Und das war unserem Kameraden passiert. Als wir den Schwerverwundeten im Bunker niederlegten, war er bei vollem Bewusstsein, und da ihm klar war, dass er sterben musste, bat er uns, den Priester zu holen. Der Priester machte das Kreuzzeichen und wollte ihm die Beichte abnehmen. »Mein Sohn«, fragte e r salbungsvoll, »hast du unzüchtige Lieder gesungen oder Worte benutzt, die das Schamgefühl von Frauen und Kindern verletzen können?« Der Verwundete schwieg, verzog das Gesicht, wandte den Blick ab und schloss die Augen. Für immer. Wenn ich kein Jude wäre, hätte ich diesen dämlichen Pfaffen vermutlich ins Gesicht geschlagen.
Doch nicht nur die Katholiken werden von solchen brillanten Vertretern der Geistlichkeit heimgesucht. Ich bin hier zum ersten Mal, seit ich an der Front bin, einem Militärrabbiner begegnet. Er hat es tatsächlich geschafft, in unserer Brigade genug Juden zusammenzutrommeln, um einen Gottesdienst abzuhalten. Wir durften uns an einem relativ ruhigen Ort hinter der Frontlinie versammeln. Der Rabbiner hielt eine Thorarolle im Arm und murmelte eine Reihe von Gebeten, die offenbar keiner von uns verstand. Danach hielt er eine Predigt. Lieber Vater, Du hättest über diese »Predigt« nur gelacht. Nichts als Phrasen über Patriotismus und Vaterlandsliebe, wie man sie uns in der Schule eingebläut hat. Er rief uns auf, mutig zu sein und unser Leben für La Patrie aufs Spiel zu setzen. Und das sagt er uns, den armen Teufeln, die in Gräben verfaulen, die uns zu Gräbern werden. Die wir seit fast fünf Monaten täglich dem Tod ins Auge sehen. Während er begeistert weiterpredigte, löste sich unsere Gruppe allmählich auf. Der beleidigte Rabbiner, nach seinem Rangabzeichen ein Hauptmann, rief uns zurück und befahl uns, Haltung anzunehmen. Wir warfen einander kurze Blicke zu und gingen weiter, ohne ihn zu beachten.
Aber ich habe auch erlebt, dass Geistliche ihr Leben für die Soldaten riskieren. Manche haben die Schützengräben verlassen, um Verwundete bergen zu helfen, und sich dabei ohne Deckung dem feindlichen Feuer ausgesetzt. Ich sah Priester mitten im Geschosshagel zu Sterbenden kriechen und ihnen das Kreuz zum letzten Kuss reichen. Und ich bin einem Armeerabbiner begegnet, dem alle Bewunderung gebührt. Einem g roßartigen Menschen, der mir an diesem Ort der seelischen Abstumpfung ungläubiges Staunen abgenötigt hat.
Liebe Eltern, erinnert Ihr Euch noch an den Rabbiner Joseph Vidal aus Carpentras? Er diente eine Zeit lang als Rabbiner in unserer Synagoge in der Rue Causserouge. Damals kam er mir alt vor. Plötzlich traf ich ihn in einem Schützengraben. Da er Uniform trug, fiel er mir zunächst nicht auf. Doch er erkannte mich sofort und rief: »Der junge Naquet! Sie hier – das hätte ich nicht erwartet. Welche Überraschung!« Diesmal erschien mir der Rabbiner gar nicht so alt. Er sagte, er sei mit seinen fünfundvierzig Jahren nicht mehr eingezogen worden, doch er habe sich
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