Suess und ehrenvoll
und jüdischen Lichterfests ermöglichte den Juden, sich in die Gesellschaft zu integrieren. ›Was tun sie nicht alles, um sich einbilden zu können, dass sie als gleichberechtigt anerkannt werden?‹, dachte Louis mit einem wehmütigen Lächeln. Es wäre interessant, zu erfahren, wie Nichtjuden darüber denken. Aus Angst vor einer verächtlichen oder verletzenden Antwort hatte er bisher nie gewagt, seinen nichtjüdischen Freunden diese Frage zu stellen.
Bei ihm zu Hause wurden die Chanukka-Kerzen angezündet. Und da es Weihnachten war, würde die Familie Naquet späterauf die erleuchtete Straße hinausgehen, die noch vom Duft der Festmähler erfüllt war, und wie viele andere Nichtjuden die Mitternachtsmesse in der Kirche besuchen, »weil der Gottesdienst so feierlich ist und die Musik so schön…«. Währenddessen hockte Louis in seinem Schützengraben.
Aber nein, er würde den Eltern nicht schreiben, um ihnen die festliche Stimmung nicht zu verderben. Am besten ließ man die Heimatfront in dem Glauben, dass alle Soldaten Helden ohne Furcht und Tadel waren, erfüllt von hoher Kampfmoral und dem Glauben an die gerechte Sache. » Merde alors« , murmelte er sich in den Bart und drehte sich auf die andere Seite, um endlich einzuschlafen.
Der einzige Kamerad, mit dem Louis etwas engeren Kontakt hatte, war Gérard, ein Fischer aus der Normandie. Sie hatten einige relativ ruhige Abende in einem Lager drei Kilometer hinter der Front verbracht, obgleich auch dort ab und zu feindliche Granaten einschlugen und Gaswolken über das Gelände trieben. Zwar mussten sie auch hier Wache halten, aber zumindest brauchten sie sich nicht an den Schanz- und Instandhaltungsarbeiten zu beteiligen, die von den dort stationierten Mannschaften durchgeführt wurden, und konnten daher länger schlafen.
Einige Stunden vor dem nächtlichen Wachdienst brachte Gérard eine Flasche Cognac mit. »Komm, Louis, lass uns trinken, und danach habe ich eine Überraschung für dich!«
»Du weißt doch, dass ich kaum trinke«, wehrte Louis ab, »so ein Cognac steigt mir sofort zu Kopf.«
»Und genau das will ich erreichen«, erwiderte Gérard und grinste. Er fasste Louis am Arm und zog ihn aus dem Bunker. Draußen standen zwei mit Reisig getarnte Fahrräder.
Louis machte große Augen. »Wo hast du die her?«, fragte er.
»Frag lieber nicht, sondern steig auf und fahr hinter mir her.«
Louis wunderte sich, wie gut sein Freund den Weg zu kennen schien. Nach einer halben Stunde sah er die Lichter eineskleinen Bauernhofs. Die Wirkung des Cognacs, von dem Louis kaum getrunken hatte, war schon fast verflogen, und so fragte er sich mit wieder geschärften Sinnen, wohin er hier geraten war. Während sie die Fahrräder abstellten, gab er sich selbst die Antwort, dass es sich wohl nur um ein Hurenhaus handeln konnte. ›Typisch für diesen Gérard‹, dachte Louis. ›Kein Wunder, dass er mich betrunken machen wollte. Er kennt mich und weiß, dass ich für diese Art von Abenteuern nicht zu haben bin. Wieso bin ich nur mitgefahren?‹
Louis schüttelte energisch den Kopf: »Ich gehe da nicht rein, Gérard. Das ist nichts für mich.«
Der junge Mann hielt ihm die Flasche hin, doch Louis wehrte ab: »Von mir aus kannst du Cognac und Fahrräder stehlen und zu den Huren gehen. Ich wünsche dir dabei viel Vergnügen, aber mich lass aus dem Spiel. Ich fahre nach Hause.«
Gérard lachte unfroh: »Nach Hause? Was für ein Zuhause? In den Bunker oder den Schützengraben voller Ratten? Hör zu, Louis, ich bin dein Freund und ich will dein Bestes. Du weißt, dass wir jeden Moment hopsgehen können. Ich will nicht, dass du als Jungfrau stirbst.«
»Das geht dich nichts an«, fiel ihm Louis ins Wort, doch Gérard ließ sich nicht beirren: »Bevor du stirbst, solltest du wenigstens wissen, wo die Kinder herkommen. Außerdem würdest du den Weg allein nicht finden, noch dazu in der Dunkelheit. Ohne mich fährst du geradewegs in die feindliche Front hinein.« Damit zog er ihn am Ärmel zum Eingang des Bauernhauses.
Das Innere war schwach erhellt. Die stickige Luft roch nach Holzrauch und der Petroleumfunzel, die in einer Ecke brannte. Auf einem zerschlissenen Sofa saß eine zahnlose Alte mit wirrem grauem Haar und rauchte Pfeife. Sie winkte die beiden Soldaten herbei. »Fünf Francs für jeden«, krächzte sie, »einschließlich Getränk.«
»Vier für uns beide«, sagte Gérard, und nach einigem Feilschen einigten sie sich auf fünf Francs insgesamt. Auf einem
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