Suess und ehrenvoll
Linie. Alle Offiziere und Unteroffiziere der Kompanie, die noch am Leben waren, wurden bei diesem Angriff getötet oder verwundet. Und als die übrig gebliebenen Soldaten bis zu den deutschen Stellungen vorgedrungen waren und zum Sturm ansetzten, erwartete sie eine böse Überraschung. Sie hatten die Stacheldrähte durchschnitten, Handgranaten in die feindlichen Schützengräben geworfen und sahen schon die Deutschen fliehen, als mit einem Mal ein unerwartetes Hindernis vor ihnen aus dem Erdboden sprang: ein Stacheldrahtzaun, der bisher unsichtbar auf dem Boden gelegen hatte und jetzt plötzlich von den deutschen Gräben aus durch Stricke und Sprungfedern hochgezogen wurde.
Der Schwung des Angriffs wurde abrupt gestoppt. Gleichzeitig setzte schweres Maschinengewehrfeuer ein. Louis verlor die Fassung nicht. Da keine Offiziere in der Nähe waren, rief er seinen Kameraden zu: »Verwundete bergen und schnellstens zurück!«
Die erschrockenen Soldaten machten kehrt, luden sich die Verwundeten auf die Schultern oder zogen sie hinter sich her. Auch Louis rannte zu einem Verwundeten, der blutüberströmt und nicht zu identifizieren war. Er zog den vor Schmerzen brüllenden Mann aus dem Stacheldraht und zerrte ihn kriechend, selbst in zerfetzter Uniform und aus zahlreichen Wunden blutend, zu den französischen Stellungen. Die tierischen Schreie des Verletzten gingen in ein Röcheln über, und als Louis sich mit ihm in den Schützengraben rollte, gab er keinen Laut mehr von sich. Louis, erleichtert über sein Verstummen, rief nach dem Sanitäter, der herbeistürzte und sich über ihn beugte. Louis winkte ab und wies auf den Verwundeten, doch der Sanitäter warf nur einen kurzen Blick auf den Mann und kam zu Louis zurück, der erschöpft zu Boden gesunken war.
»Ich werde dich jetzt verbinden«, hörte er den Sanitäter sagen, »deinem Kameraden ist nicht mehr zu helfen.«
Louis hob den Kopf und sah zu dem Soldaten hinüber. ›Deshalb ist er so still‹, dachte er. ›Weil er tot ist!‹ Und dann erkannte er ihn. Es war Jean-Marie de Marmont.
Die überlebenden Soldaten versuchten, sich im Schutz der Gräben von dem missglückten Angriff zu erholen. Fast alle hatten mehr oder weniger schwere Verletzungen davongetragen, wenn nicht vom Stacheldraht, dann von Gewehrkugeln oder Granatsplittern. Doch schon kam der Befehl, sich gefechtsbereit zu machen und einen Gegenangriff der Deutschen abzuwehren, der jedoch genauso scheiterte wie der vorhergehende Angriff der Franzosen. Das Schlachtfeld war mit toten Soldaten beider Nationen übersät.
In der Nacht fanden Louis und seine Kameraden trotz ihrer abgrundtiefen Müdigkeit keinen Schlaf. Die Deutschen konnten jederzeit wieder angreifen. Endlich brach der Morgen an, und es wurde befohlen, die Stellungen für die Ablösung zu räumen. Dem Seufzer der Erleichterung, der durch die Reihen ging, folgte bald ein empörtes Murren. Der neue Befehl lautete, sich in Marschordnung aufzustellen und in Dreierreihen zu einem fünf Kilometer südlich gelegenen Dorf zu marschieren. ›Marschieren? In Dreierreihen? Fünf Kilometer? Wie denn? Wir können keine zehn Meter mehr gehen! Wir sind ausgepumpt bis auf die Knochen, und die meisten sind verwundet. Wo bleibendie Lastwagen? Hier wird nicht mit Bleisoldaten gespielt, sondern mit Menschen!‹ Doch die überlebenden Offiziere, die nicht viel besser aussahen als die Mannschaft, bestanden darauf, dass der Befehl von oben kam und zu befolgen war. Nicht genug damit, dass sie in Dreierreihen marschierten, sie mussten auch noch singen, als das Dorf in Sicht kam. Was soll das, knurrten Louis und seine Kameraden, wir sind doch keine Rekruten! Singen? In unserem Zustand? Doch auch diesmal gab es kein Erbarmen. Zunächst war nur ein dumpfes Gemurmel zu hören, und die wiederholten Befehle, lauter und munterer zu singen, nützten nicht viel. Die Offiziere versuchten vergeblich, aus den abgekämpften Soldaten eine disziplinierte Truppe zu machen. Als sie sich dem Dorf näherten, waren die Straßen dicht gesäumt von Menschen, die anscheinend auch aus den benachbarten Dörfern gekommen waren. Eine Kapelle stand bereit – und davor, kaum zu glauben, ein Offizier zu Pferde! Plötzlich stimmten die Soldaten von sich aus ein Lied an. Sie marschierten schneller, und je näher sie dem Dorf kamen, desto lauter wurde ihr Gesang.
Als sie im Dorfzentrum ankamen, war aus dem elenden Häuflein schlamm- und blutbedeckter Soldaten eine stolze Truppe geworden. Zumindest
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