Suess und ehrenvoll
hatte jeder von ihnen dieses Gefühl. Die Kapelle nahm die Melodie des Liedes auf, das sie sangen: » Couche-toi, soldat, couche-toi« [Zieh den Kopf ein, Soldat, zieh den Kopf ein], das Lied der Soldaten in den Schützengräben, das jetzt, aus voller Kehle geschmettert, wie ein fröhliches Marschlied klang. Sie sangen und warfen den jubelnden Dorfbewohnern stolze Blicke zu. Der Offizier zu Pferde war kein anderer als der Brigadekommandeur, Oberst Boiron. Er salutierte mit gezogenem Säbel. Seine feierliche Miene stand in seltsamem Gegensatz zu seiner schlammbespritzten Uniform. Er gab der Truppe das Zeichen zum Anhalten, brachte die Kapelle mit einer Handbewegung zum Schweigen und sagte nur einen Satz: »Frankreich und ich heißen euch als Helden willkommen.« Die Dörfler, die sich auch nicht gerade im Sonntagsstaat präsentierten, brachen in frenetischen Beifall aus. Die Soldaten wurden von einer Begeisterung gepackt, zu der sie noch vor wenigen Minuten nicht fähig gewesen wären, warfen ihre Käppis in die Luft und jubelten in einem plötzlichen Glücksgefühl, das sie selbst überraschte.
Die Lastwagen warteten am Ende der Hauptstraße. Zum Teil waren sie schon voll mit Verwundeten. Die Soldaten zwängten sich mühsam hinein, doch sie fühlten sich nicht mehr wie armselige Erdratten, sondern wie stolze Krieger. Dann ging es ins Hinterland, ins Erholungslager.
Nach einer Woche im Lager wurden Louis und seine Kameraden wieder zum Appell gerufen, doch diesmal boten sie ein wesentlich besseres Bild. Ihre Uniformen waren sauber, und die Wunden, die ihnen »der springende Stacheldraht« bei ihrem letzten Sturmangriff zugefügt hatte, begannen zu heilen. Oberst Boiron trug eine Paradeuniform, wie sie die Frontsoldaten seit Monaten nicht mehr gesehen hatten. Dann verteilte er Auszeichnungen. Wieder einmal wurde Louis als Letzter aus den Reihen gerufen. Für »den Heldenmut und die Geistesgegenwart«, die er bei dem Ansturm auf den springenden Stacheldraht bewiesen hatte, bekam er das Croix de guerre , die höchste Auszeichnung, die an diesem Tag verliehen wurde. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als Oberst Boiron ihm den Orden an die Brust heftete und sich auf die Zehenspitzen stellte, um den hochgewachsenen Bäckersohn auf die Wangen zu küssen. ›Wenn mich jetzt meine Eltern sehen könnten!‹, dachte Louis.
15
F RANKFURT AM M AIN
— Mai 1915 —
Schon wenige Tage nach Ludwigs Abreise kam Friede aus Berlin zu Besuch, sodass Karoline etwas Abwechslung von ihren trüben Gedanken hatte. Sie war froh, nicht immer nur mit ihren Eltern reden zu müssen.
Friede allerdings war schon lange nicht mehr die lustige Kameradin von früher. Seit dem Tod ihres Verlobten trug sie Schwarz und ließ sich auch durch Karoline nicht davon abbringen. Umso stärker unterstützte sie Karolines Liebe zu Ludwig. Sie wünschte ihrer Freundin das Glück, das sie für immer verloren hatte.
Karoline war pünktlich am Bahnhof, als Friedes Zug einlief. Sie stürzte sich geradezu auf die Freundin, umarmte und küsste sie heftig.
Aber Friede war totenbleich und reagierte kaum auf die Begrüßung. Als sich Karolines Arme um ihren Hals schlossen, fing sie sogar an zu weinen.
»Was ist?«, fragte Karoline erschrocken. »Ist deinen Eltern was zugestoßen?«
»Nein, nein«, presste Friede heraus. »Es ist nur … Die Clara hat sich erschossen!«
Karoline war verwirrt, vielleicht auch ein wenig eifersüchtig. »Welche Clara?«, fragte sie heftig, ja sogar etwas zu heftig. Friede verstummte jetzt völlig, tupfte sich nur das Gesicht ab und fasste nach ihrem Koffer. Auch in der Droschke, die sie glücklicherweise gefunden hatten, sprach sie kein Wort, sondern starrte nur stumm aus dem Fenster.
Erst als sie in der Kaiserhofstraße waren und in der kleinenWohnung im Hinterhaus saßen, taute sie etwas auf. Jetzt erzählte sie plötzlich und wollte gar nicht mehr aufhören.
»Clara ist … Clara war eine großartige Frau. Ich kenne sie schon seit Jahren, sie hat mich immer beeindruckt. Sie ist die Ehefrau von Fritz Haber, der seit vier Jahren Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie ist und auch meinen Vater dorthin geholt hat.«
»Ist er auch Jude?«, fragte Karoline wider Willen.
»Ja«, sagte Friede. »Und Clara war auch Jüdin. Und außerdem Chemikerin. Sie war die erste Frau, die in Deutschland in diesem Fach promoviert hat. Aber sie hatte natürlich keine Chance auf eine Karriere. Sie musste froh
Weitere Kostenlose Bücher