Suess und ehrenvoll
seit Kriegsbeginn nicht nur sehr viele Soldaten verloren, sondern relativ gesehen noch mehr Offiziere. In diesem Krieg haben wir keine Zeit, geeignete Kandidaten in Saint-Cyr als Offiziere ausbilden zu lassen, wie es normal wäre. Daher wurde beschlossen, Soldaten mit Fronterfahrung, die sich überdies ausgezeichnet haben, auch ohne diese Ausbildung zu Offizieren zu befördern. Zu diesen Auserwählten zählen auch Sie, Leutnant Naquet«, erklärte der Oberst, wobei er den Rang besonders betonte. »Ja, Sie haben recht gehört, Leutnant Naquet.«
Der Oberst stand auf, drückte dem erstaunten Louis die Hand und küsste ihn auf beide Wangen. Einer der Adjutanten von de Boissieu überreichte ihm die Ernennungsurkunde und half dem Kommandeur, das Leutnantsabzeichen auf Louis’ Schulterklappen zu heften. In dem Gefühl, einem ebenso unerwarteten wie unbegreiflichen Geschehen beizuwohnen, blieb Louis in strammer Haltung stehen und brachte kein Wort heraus. »Nun, Herr Leutnant«, meinte der Oberst lächelnd, »haben Sie gar nichts zu sagen?«
»Herr Oberst«, brachte Louis mühsam hervor, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Auf diese Situation war ich nicht vorbereitet.« Er räusperte sich verlegen. »Herr Oberst, erlauben Sie mir, Sie um einen Rat zu bitten: Wie wird man ein guter Offizier?«
»Sie werden überrascht sein, Naquet«, sagte de Boissieu lächelnd, »aber von mir bekommen Sie keinen der üblichen Ratschläge. Sie haben selbst gute und weniger gute Offiziere im Einsatz erlebt und wissen daher, was von einem militärischen Vorgesetzten erwartet wird. Lediglich einen Rat möchte ich Ihnen geben: Tun Sie alles Erdenkliche, um von Ihren Soldaten geliebt zu werden. Ja, geliebt zu werden! Ein Soldat ist viel eher bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen, wenn er seinen Vorgesetzten schätzt. Sie haben das sicher schon selbst empfunden: Der Soldat hat irgendwo im Hintergrund immer das Gefühl, dass er auch für den kämpft, der ihm die Befehle gibt.«
»Von den Soldaten geliebt zu werden?«, wiederholte Louis ungläubig.
De Boissieu sah ihn mit einem Lächeln an. »Allerdings, es ist wichtig, dass Ihre Soldaten Sie lieben. Und im Gegenzug müssen sie wiederum Ihre Liebe spüren. Oder haben Sie etwa geglaubt, dass es darauf nicht mehr ankommt, weil sie sowieso sterben werden?«, fügte er sarkastisch hinzu. »Merken Sie sich eines: Der Unterschied zwischen Lebenden und Toten ist kein grundsätzlicher, sondern nur eine Frage der Zeit.«
Am nächsten Tag kam der Marschbefehl. ›Sie sollen mich lieben‹, dachte Louis, als er die Männer in Augenschein nahm. ›Ja, ich will dafür sorgen, dass sie mich lieben. Ich werde mich vernünftig verhalten und den direkten Kontakt mit ihnen suchen, soweit das im Rahmen der Vorschriften möglich ist.‹
Liebe Maman, lieber Papa,
ich schreibe Euch zu später Nachtstunde. Einschlafen kann ich ohnehin nicht, denn ich bin doch ein wenig aufgeregt. Morgen früh ist es endlich so weit: Wir verlassen Belgien und kehren nach Frankreich zurück. Was bedeutet das? Wird es dort besser sein? Das Frontleben ist überall gleich. Doch die Veränderung, der Aufbruch, ein neuer Ort heben unsere Stimmung. Vielleicht ist dieses Gefühl nur eine flüchtige Illusion, doch deshalb nicht weniger angenehm.
Der heutige Tag bescherte mir eine Überraschung. Ihr werdet es nicht glauben, aber ich wurde plötzlich zum Leutnant befördert. Hätte ich Hurra rufen sollen? Vielleicht. Doch ich weiß, dass mir diese unerwartete Ehre nur deshalb zuteil w urde, weil so viele Offiziere gefallen sind. Ich habe keinen Offizierskurs absolviert. Man muss ganz einfach die Reihen wieder auffüllen. Ich weiß nicht, was ich von dieser Geschichte halten soll. Um die Wahrheit zu sagen: Mich beunruhigt nicht nur der Aufbruch, sondern auch die neue Verantwortung, die Befehlsgewalt über Menschen, deren Schicksal in meiner Hand liegt.
Was mich ein wenig auf andere Gedanken brachte, war ein Abendessen bei einer belgisch-flämischen Bauernfamilie.
Was soll ich Euch sagen: ein Erlebnis. Diese Menschen sind unsere unmittelbaren Nachbarn und doch so verschieden von uns. Wir sprachen französisch, doch es dauerte eine Weile, bis ich mich an den schweren flämischen Akzent gewöhnt hatte.
Ohnehin wurde nicht allzu viel geredet. Unsere Gastgeber, die uns überaus großzügig bewirteten, verhielten sich sehr zurückhaltend. Vielleicht ist das eine typisch flämische Eigenschaft. Jedenfalls hatte ich diesen
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