Süß wie die Sünde: Roman (German Edition)
Idioten, was diese Verdächtigen betraf, aber Jude hatte keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Wollte sie sich ernsthaft zwischen Jude und Marissa stellen, hätte sie ihm zumindest ihre Liebe gestanden.
Und was hätte er dann gesagt? Ihr Geständnis, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, weckte eine befremdliche Mischung aus Stolz und Unbehagen in ihm. Nein, mehr als das. Nachdem er sich von ihr verabschiedet hatte, verließ er das Haus schweren Herzens.
Sie war nicht die erste Frau, die offen zugab, sich aus unerklärlichen Gründen von ihm angezogen zu fühlen. Selbst Marissa hatte es eingestanden. Und er hatte sich diesen Umstand bei ihr und anderen Damen zunutze gemacht. Dass er auf eine verdrehte Weise anziehend wirkte, hatte ihn nie gestört. Vielmehr dachte er stets, er nähme sich bloß, was ihm zustand.
Kurz bevor er sein Pferd erreichte, blieb er abrupt stehen.
Was ihm zustand? Die Position, die ihm zukam? Die Rolle, die er in dieser Welt der höflichen Menschen und unhöflichen Tatsachen spielte.
Jude wurde beinahe übel, als er begriff, dass er sich diesen Leuten gegenüber ganz und gar nicht als ebenbürtig betrachtete.
»Ich bin sicher, dass alles ein gutes Ende nehmen wird.«
Marissa blickte von ihrer Stickarbeit zu Harry auf, der neben ihr saß. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er gekommen war. »Wie bitte?«
»Jude wird bald mit guten Neuigkeiten zurückkehren, dessen bin ich gewiss.«
»Bist du?« Marissa seufzte. Sie war es nicht. Sie war sich eigentlich recht sicher, dass Jude, falls er zurückkam, schreckliche Neuigkeiten brächte: erstens, dass Mrs Wellingsly nicht die Erpresserin war, und zweitens, dass er entdeckt hatte, wie angenehm die Nähe einer wunderschönen Frau war, die ihn wahrhaft liebte. Je mehr Marissa darüber nachdachte, umso sicherer war sie sich. Welcher Mann würde das nicht wollen? Welcher Mann würde dem ein kindisches junges Mädchen vorziehen, das ihn beleidigte und ihn für die eigenen Zwecke ausnutzte?
Marissa blinzelte ihre Tränen fort. »Danke, Harry.«
»Du … ich hoffe, du verzeihst meine Unverblümtheit, Cousine, aber du siehst furchtbar aus.«
Sie tat nicht einmal beleidigt. Harry war ihr nicht so nahe wie ein Bruder, doch allemal so nahe wie … ein Cousin. Er war mit ihren Brüdern zusammen zur Schule gegangen, folglich bestand zwischen ihnen ein stärkeres Band, doch während der Sommer hatte sie mit ihm zusammen Schwimmen, Reiten und Schummeln beim Kartenspiel gelernt.
»Du solltest dir nicht so viele Sorgen machen«, fuhr er fort. »Wir passen auf dich auf.«
»Ich danke dir, Harry.« Einen Moment lang sah sie ihn an und versuchte, sich vorzustellen, wie er als Mann war und nicht nur als Cousin. Doch er war undurchschaubar, ein echter Gentleman aus gutem Hause eben, der sich für nichts als Pferde interessierte und … ja, auch ein wenig für Schafzucht. Für Politik hatte er keinen Sinn.
Eigentlich hatte Marissa nie viel über ihn nachgedacht. Er war einfach ein Teil ihres Lebens. Dann aber lehrte Jude sie, hinter die Fassade der Dinge zu sehen, und sie musste gestehen, dass sie keine gute Schülerin war.
»Darf ich dich etwas fragen, Harry?«
»Natürlich.«
»War es jemals … einsam für dich? In der vielen Zeit, die du bei uns verbracht hast?«
Harry runzelte die Stirn und verneinte. »Was meinst du?«
»Na ja, du warst im Internat und sonst meist hier …«
»Gott, nein! Es war ein Segen. Meine Mutter ist so sauertöpfisch, dass ich selbst heute kaum die Tage ertrage, die ich bei ihr bin. Und an meinen Vater erinnere ich mich nicht, weil ich zu klein war, als er starb. Euer Vater war für mich viel mehr als ein Onkel. Ein formidabler Mann.«
Er war ein großartiger Mann gewesen. Still, aber nicht mürrisch wie seine Schwester. Er war ein heiteres Publikum für all den Unsinn gewesen, den seine Frau und seine Kinder anstellten.
»Das freut mich. Du bist so ein guter Schauspieler, dass ich mich fragte, ob du womöglich nur vorgibst, dich bei uns wohlzufühlen.«
»Unfug. Ihr seid die einzige richtige Familie, die ich habe.«
Marissa blickte wieder auf das kleine Kissen, das sie stickte. Es war dasselbe Kissen, mit dem sie Jude zwei Wochen zuvor geneckt hatte. Die Stickerei machte sich recht hübsch. Wären die Umstände andere, würde sie Jude davon erzählen, und sie würden gemeinsam lachen. Sie würde mit ihm über ihren Vater sprechen, der seit sieben Jahren tot war. Aber heute Morgen hatte sie Judes Freundschaft
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