Süß wie die Sünde: Roman (German Edition)
fremden Kreatur aufsahen.
Ähnlich, wie es die Damen der feinen Gesellschaft taten, kaum dass Jude erwachsen war.
Er erinnerte sich noch an das Gefühl nach dem Einzug bei seinem Vater. Er hatte unter Heimweh gelitten, seine Mutter vermisst, aber er war auch froh, dass man ihn so freundlich aufnahm.
Jene Dankbarkeit empfand er bis heute, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Das uneheliche Kind einer Kurtisane zu sein, das war eben etwas ganz anderes als der Kegel eines Herzogs. Obgleich ihm die Wärme seines mütterlichen Zuhauses fehlte und er die Sommermonate bei seiner Mutter sehr genoss, schätzte er auch, welchen Respekt ihm die Anerkennung seines Vaters verschaffte.
Ebenjenen Respekt hatte er seinem Selbstvertrauen zu verdanken, ohne das er sich kaum in den feinen Kreisen bewegen und als Gleichgestellten sehen könnte.
Zumindest hatte er das immer geglaubt. Bis Marissa ihn mit der Nase darauf stieß, dass er ihnen doch nicht gleich war. Er mochte nicht zwangsläufig niedriger stehen, aber er war eindeutig anders. Diese Erkenntnis konnte er verkraften und lernen, mit ihr zu leben. Die wahrhaft bittere Pille war, sich selbst einzugestehen, dass er bis heute dankbar war, akzeptiert zu werden.
Genau das spiegelte sich in seinem Versuch wider, Marissa York zärtliche Gefühle für ihn zu entlocken. Nun begriff er, dass seine Verführung einzig dem Zweck gedient hatte, ihren Widerstand zu brechen und sie dazu zu bringen, echte Zuneigung für ihn zu empfinden. Als ließe sich eine vornehme Dame verführen, ihn zu lieben!
Mit einem bitteren Lächeln wartete er, dass ihr Tanz sie wieder auf seine Seite des Ballsaals führte.
Bei Gott, sie war eine Schönheit. Das hatte er ihr schon oft gesagt, nur wusste sie wahrscheinlich nicht, dass er mehr als ihr Aussehen meinte. Sie war lebendig, klug, mutig und sinnlich. Und, ja, ein bisschen oberflächlich. Aber sie hatte recht: Seinen Schmerz hatte sie nicht verursacht. Das hatte er allein getan.
Als er sie neben sich zu spüren meinte, drehte Jude sich um und runzelte die Stirn, weil dort Aidan stand. »Ist alles bereit?«, fragte Jude leise.
»Ja. Edward übernimmt die erste Wache am Pavillon. In einer Stunde löse ich ihn ab. Danach bist du dran, dann wieder Edward.«
»Wir könnten die ganze Nacht warten müssen.«
»Könnten wir«, pflichtete Aidan ihm bei. Marissa tauchte vor ihnen auf. Ihre Miene wirkte ein wenig starr, als sie die Quadrille tanzte. »Ich habe das Gefühl, dass du es dir anders überlegt hast, was meine Schwester betrifft. Bläst du die Sache ab?«
Jude verneinte.
»Na, aber wie ein Mann, der demnächst fröhlich vor den Altar tritt, siehst du nicht aus.«
»Lass es. Wir haben gestritten, weiter nichts.«
»Wegen Patience?«
»Ich sagte, lass es!«
»Grundgütiger«, murmelte Aidan. »Du benimmst dich wie ein liebeskranker Esel.«
Jude biss die Zähne zusammen und starrte so wütend zu den Tanzenden, dass einer der Herren ihn ängstlich beäugte.
»Irgendwie siehst du fast so elend aus wie ich, als ich meine … die Frau verlor, die ich heiraten wollte.«
Aidan redete nie darüber, und dass er es jetzt tat, ließ Judes Groll verpuffen. »Sie starb«, entfuhr es ihm.
»Ja, aber vorher hatten wir uns auch gestritten. Wir sprachen seit Tagen nicht miteinander … und dann sah ich sie nie wieder.«
»Gott, das tut mir leid.«
Aidan rollte die Schultern, als müsste er die Bürde der Erinnerung abwerfen. »Um wieder zu dir zu kommen …«
»Lieber nicht.«
Aidan hatte endlich ein Einsehen, und eine Zeit lang standen beide schweigend da, wie es Herren in feinen Kreisen so oft taten. Nach einer Weile bemerkte Jude, dass die Tänzer ihre Partner gewechselt hatten und Marissa am Arm eines Unbekannten tanzte. »Wer ist das?«
Aidan folgte seinem Blick, und seine Züge erstarrten. »Der sagenumwobene Charles LeMont.«
»Verdammt.« Wie Jude bereits geahnt hatte, war Marissas erster Liebhaber eine Bohnenstange von einem Mann. Sein goldenes Haar kringelte sich zu einem sorgsam hingezupften Lockenschopf, und sein blasses Gesicht war glatt wie das einer Frau. Was für eine Ironie! »Er hat praktisch deine Schwester geschändet. Willst du ihn einfach mit ihr tanzen lassen?«
»Willst du?«, raunte Aidan, und Jude hätte schwören können, dass sich das Gaslicht im Saal für einen Augenblick rötlich färbte.
Er atmete tief ein und sagte sich, dass eine Szene in einem Ballsaal noch schlimmer wäre als alles Gerede, das der Erpresser
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