Süß wie die Sünde: Roman (German Edition)
aussehenden Herren gesehen, die bei den Tänzen ihre hübschen Beine vorführten. Oder ihr wäre ein Kleid aufgefallen, das sie besonders schön fand. Sie hätte die charmanten Mienen und die eleganten Hände gesehen, die schönsten Paare ausgemacht und sie für die glücklichsten von allen gehalten.
Heute Abend indes sah sie, was unter alldem lag, ähnlich den Skizzen unter einem Aquarell, die nicht gesehen werden sollten und doch bei genauerem Hinsehen da waren.
Dort rechts tanzte ein gut aussehender junger Mann mit vollkommener Eleganz, sah jedoch gänzlich desinteressiert an dem runden, geröteten Gesicht seiner Tanzpartnerin vorbei. Es war ein recht übliches Bild, allerdings umso trauriger, als die beiden jungen Leute frisch verheiratet waren: eine Heirat, die durch Schulden notwendig geworden war. Die Braut war glücklich, wohingegen der Bräutigam keinen Hehl aus seiner Unzufriedenheit machte. Er wollte, dass jeder es wusste.
Noch weiter rechts tanzte ein elegantes Paar, die beide gleichermaßen elend wirkten. Vor vier Jahren galt ihre Vermählung als geradezu himmlische Fügung. Nun jedoch wurde getuschelt, dass ihn die ausbleibenden Kinder zusehends frustrierten, und anscheinend bot ihnen ihrer beider Schönheit keinen Trost. Sie waren reizend anzusehen, aber unglücklich.
Weiter zur Mitte tanzten ein Mann und eine Frau einen nicht besonders eleganten Walzer, die beide leider eher klein und gedrungen waren; doch sie strahlten vor Glück, während der Gemahl seiner Frau etwas ins Ohr flüsterte, das sie erröten und kichern ließ. Sie waren seit fast zwanzig Jahren verheiratet, wie Marissa wusste, denn ihre älteste Tochter war kürzlich in die Gesellschaft eingeführt worden.
Es waren alberne Beobachtungen, für jedes Kind mühelos zu erkennen, und dennoch sah Marissa all diese Dinge zum ersten Mal. Eleganz war kein Beweis, dass jemand als Ehemann oder auch bloß als Geliebter taugte. Genau genommen besagte sie gar nichts, schon gar nicht in Anbetracht einiger gemeinsamer Jahre.
Aber könnte sie nicht ebenso leicht mit Jude unglücklich werden wie mit irgendeinem hübschen jungen Burschen?
Jude war wieder zu sehen, und Marissas Herz schlug prompt schneller. Er war ein passabler Tänzer, nicht so geschmeidig wie manch anderer Gentleman, und doch wollte Marissa in seinen Armen sein, nicht in denen eines anderen Mannes. Sie wollte seine Beine in der Gewissheit bewundern, sie später ohne Bekleidung zu sehen. Sie wollte wieder seine Brust streicheln und küssen. Diesmal würde sie ihn dort auch mit der Zunge necken, um herauszufinden, ob sie ihn zum Schnurren bringen konnte wie einen zufriedenen Kater.
Jene Frau, die Fremde, wusste es wahrscheinlich längst. Anstelle von Wut empfand Marissa Verzweiflung, weil sie fürchtete, dass ihre Einsicht zu spät kam.
Jude schaute auf. Er schmunzelte über etwas, das seine Tanzpartnerin gesagt hatte. Kaum jedoch begegneten seine Augen Marissa, erstarb sein Lächeln – fortgewischt von ihrem Anblick.
Und in diesem traurigen Moment begriff Marissa, dass sie ihn liebte.
Kapitel 20
D ie Bäume sorgten für ein stetes Rascheln und Wispern getrockneten Laubs im Wind, sodass Jude weder Schritte noch Atmen hörte. Die pechschwarze Gestalt indes war nicht zu übersehen, als sie die kunstvoll aufgeschichteten, hellen Steinstufen zum kleinen griechischen Pavillon hinaufstieg.
Jude staunte, welcher Zorn ihn überkam. Er wollte, dass diese Sache vorbei war, und einzig die zierlichen Umrisse der Gestalt hielten ihn davon ab, sie mit einem brutalen Hieb zu Boden zu schlagen. Anstatt mit der Faust nach dem Schatten auszuholen, presste er ihm seine flache Hand auf den Mund und hob ihn hoch. Ehe seine Hand jeden Laut erstickte, war jedoch noch ein winziges Quieken zu hören. Jude wunderte sich weder über die Stimmhöhe noch über den weichen Körper, denn trotz der Dunkelheit und des weiten Umhangs hatte er gleich gesehen, dass es sich um eine Frau handelte. Und seine erste Reaktion war große Erleichterung, weil es nicht Harry war.
Der Beutel mit dem Geld fiel herunter und prallte von Judes Fuß ab, als die Frau sich von ihm freistrampeln wollte. Sie war so klein, dass Jude mühelos ihre beiden Arme festhalten und sich nach dem Beutel bücken konnte. Die Frau zappelte wild, als Jude sie unter die Bäume zerrte. »Still! Sie sind überführt, also geben Sie auf.«
Sie schrie hinter seiner Hand und stemmte sich gegen ihn.
»Hören Sie schon auf. Sie verletzen sich
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