Süß wie die Sünde: Roman (German Edition)
zweifellos interessieren. Vielleicht überlegt sie es sich, wenn sie erst abgeführt wird. Ich schicke gleich nach ihm. Jude?«
Marissa war beinahe sicher, dass Tess bei dem Gedanken an eine Gefängnisstrafe einknicken würde, doch das Mädchen blickte stur auf seinen Schoß und ergab sich anscheinend seinem Schicksal. Marissa hob eine Hand, um den Männern Einhalt zu gebieten, und kniete sich vor Tess. »Wenn du nicht reden willst, muss ich deine Familie besuchen. Sie wissen vielleicht, bei wem du derzeit eingestellt bist.«
Tess hob ruckartig den Kopf und riss die Augen weit auf vor Angst.
»Deine Eltern wohnen in Hull, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf und wurde kreidebleich.
»Ja, sie wohnen in Hull. Ich erinnere mich, dass du an Ostern deine Mutter dort besucht hast. Du musst ihnen geschrieben und deine neue Anschrift mitgeteilt haben, denn hier kamen keine Briefe für dich an. Was einer der Gründe war, weshalb Mutter fest glaubte, dass du wohlauf bist.«
Eine Weile lang blickte Tess sie voller Angst an, ehe sie sich unter den Männern umsah, als hoffte sie, dass einer von ihnen sie retten würde. Offensichtlich erkannte sie bei keinem ein solches Ansinnen, denn als sie wieder zu Marissa sah, flossen neue Tränen. »Wenn ich es Ihnen sage, bezahlt sie mich nicht. Ich habe es nur darum gemacht, ehrlich. Einhundert Pfund … Daheim habe ich noch vier Schwestern. Wenn ich ein Jahr im Gefängnis sein muss, würde das Geld …«
»Dafür ist es jetzt zu spät«, sagte Edward leise. »Erzähl uns die Wahrheit.«
Die Stille, die eintrat, wurde zu einem Summen in Marissas Ohren. Auf Edwards Schreibtisch tickte die Uhr, und Marissa fragte sich, wieso ihr das Geräusch noch nie zuvor aufgefallen war. Aber ihre Familie war nun einmal selten so ruhig.
Schließlich redete Tess: »Zuerst hat sie mir zwanzig Pfund bezahlt, nur damit ich bei ihr in Stellung gehe. Zwanzig Pfund!«
»Darum bist du verschwunden?«
»Ich habe alles an meine Mum geschickt, ich schwör’s. Ich bin nicht gierig.«
Marissa nickte, als würde sie Tess verstehen.
»Ich hätte wissen müssen, dass sie etwas Schlechtes im Schilde führte, aber ich dachte, vielleicht bewundert sie nur sehr, wie ich Ihr Haar mache und so.«
»Wer?«, fragte Jude.
Tess schluckte. »Es war Mrs Charles LeMont.«
Keiner holte auch nur Luft, und die Uhr tickte noch lauter.
Tess hingegen wirkte entspannter, als wüsste sie, dass sie ihren Teil hinter sich hatte.
»Mrs LeMont?«, wiederholte Edward. »Das ist lachhaft.«
»Sie ist schwanger«, ergänzte Aidan.
Marissa warf ihnen beiden einen verärgerten Blick zu und richtete sich wieder auf. »Und inwiefern spielt das eine Rolle?«
Edward schaute sie verwundert an. »Sie war so nett.«
»Und«, fügte Jude hinzu, »offensichtlich eifersüchtig.«
Tess nickte. »Ja. Sie hasst Miss York.« Hierbei warf sie Marissa einen beschämten Blick zu. Das Mädchen wusste, dass Charles und Marissa vor Jahren ein Liebespaar gewesen waren. Marissa selbst hatte es ihr erzählt, und dass Tess dieses Vertrauen schändlich ausgenutzt hatte, lastete wie ein Gewicht auf ihrer Brust.
»Das verstehe ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seiner Frau etwas darüber gesagt hat«, hauchte Marissa.
»Sie hat mir nichts erzählt. Bloß, dass sie alles über Sie wissen wollte, was ich ihr sagen kann. Viel war es nicht, und dann hat sie mich gefragt, ob Sie irgendwelche Geburtsmale oder so haben. Ich habe das gar nicht verstanden … und dann sollte ich heute Abend eine Tasche abholen, und sie hat gesagt, dass ich hundert Pfund als Belohnung bekomme. Ich wollte doch nichts Böses, Miss!«
Ob gewollt oder nicht, es war geschehen. Wenigstens wussten sie nun, wer sie bedrohte. »Wenn sie mich so sehr hasst, wie wahrscheinlich ist es da, dass sie die Sache auf sich beruhen lässt?«
Marissas Frage war an niemand Bestimmten gerichtet, und sie bekam keine Antwort. Edward sah zur Uhr. »Ich denke, wir sollten alles Weitere auf morgen verschieben. Es ist fast Mitternacht, und das LeMont-Anwesen liegt drei Stunden entfernt. Wir brechen im Morgengrauen auf.«
»Und das Mädchen?«, fragte Jude.
Alle sahen zu Tess, die abermals zu weinen begann.
Schließlich seufzte Edward. »Ich schätze, wir sperren sie für die Nacht in ein Zimmer und schicken sie morgen nach Hull. Du gehst heim, Tess. Ich gebe dir zwanzig Pfund, mit denen du hoffentlich eine Weile auskommst.«
»Natürlich«, flüsterte sie.
Aidan nahm sie beim Arm
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