Süß wie die Sünde: Roman (German Edition)
und zog sie von der Couch. »Zweiter Stock, nehme ich an?«
Marissa warf Tess einen trostlosen Blick zu, ehe sie weggeführt wurde. Ein Anflug von Mitleid für das Mädchen, das vier Jahre lang ihre Zofe gewesen war, regte sich in Marissa. Andererseits hatte Tess sehr wohl gewusst, dass sie für etwas Falsches eingespannt wurde. Keiner zahlte hundert Pfund für wohltätige Arbeit.
»Warum versuchst du nicht, ein bisschen zu schlafen, Marissa?«, sagte Edward. »Wir werden morgen sehen, was getan werden kann. Falls Mrs LeMont vernünftig ist …«
Marissa kannte die Frau nicht gut genug, um sie einzuschätzen. Sie war ihr ein Dutzend Mal begegnet, doch auch vor deren Heirat mit Charles waren sie nie Freundinnen gewesen. Die junge Frau war sehr ernst und hatte schon immer die Gesellschaft verheirateter Damen vorgezogen, wohingegen Marissa die jüngerer Frauen suchte. Und die von Gentlemen. Marissa konnte nicht einmal erahnen, warum Charles’ Frau sie so sehr hasste.
Als Marissa aufsah, stellte sie fest, dass Jude wieder ans Fenster getreten war, und seiner Körperhaltung nach wollte er allein sein. Trotzdem überlegte sie, zu ihm zu gehen und ihn um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten. Aber was wollte sie sagen? Es tut mir leid, dass ich Sie für hässlich hielt? Mir tut leid, dass ich Sie mochte und begehrte und dennoch glaubte, es könnte nicht mehr zwischen uns sein.
Würde ihn das nicht erst recht verletzen?
Sie wartete lieber bis morgen, wenn sich dieses Drama geklärt hatte. Es war besser, zu wissen, wo sie standen, ehe Marissa entschied, ob sie auf ihn zugehen oder ihn gehen lassen musste.
Also zog sie sich in ihr Zimmer zurück, während Jude weiter in die einsame Nacht hinausstarrte. Sie wünschte nur, sie wüsste, ob Jude in diesem Moment an sie dachte oder betete, dass er dieses Tollhaus bald verlassen durfte und nie zurückkommen musste.
Judes Muskeln fühlten sich wie gespannte Seile unter seiner Haut an, als er in die schwarze Nacht hinaussah. Was hatte Marissa mit dieser zarten Berührung gemeint? Was hatte es bedeutet, dass sie sich so fest an ihn klammerte?
Nichts, antwortete sein verwundetes Herz. Nicht mehr, als irgendeine der anderen Berührungen bedeutet hatte. Und es gab so viel anderes, über das er sich Gedanken machen sollte. Dennoch wollten ihm diese Fragen nicht aus dem Kopf.
Auf Edwards lautes Seufzen hin drehte Jude sich um. Der Baron saß vorgebeugt an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt. Er war der Inbegriff des sorgengeplagten Adligen. Und als er aufsah, vervollständigte seine Miene das Bild noch. »Ich gehe besser nach Aidan sehen«, raunte er. »Unsere Bedienstetenzimmer sind nicht für die Unterbringung von Gefangenen eingerichtet.«
Er stand auf und straffte die Schultern, als müsste er eine Last verlagern. »Wir sehen uns morgen früh.«
Jude hob eine Hand. »Gute Nacht.«
Er drehte sich wieder zum Fenster, als er Edwards Stimme aus dem Korridor hörte. »Harry, ich bin in wenigen Minuten zurück und weihe dich ein.«
»Aber …« Harry kam ins Studierzimmer und sah sehr verwirrt aus. »Was, in aller Welt, ist passiert? Hat das Mädchen gestanden?«
»Hat es.« Jude schenkte ihm einen Brandy ein und achtete darauf, keine Miene zu verziehen. »Das Mädchen war Marissas Zofe, die von Mrs Charles LeMont abgeworben wurde.«
»Mrs LeMont?«, wiederholte Harry konsterniert. »Aber das ergibt doch keinen Sinn. Die Erpressung …«
»Sie wollte Marissas Ruf ruinieren, weil Charles LeMont früher in sie verliebt war.«
»Mein Gott«, stöhnte Harry. »Das alles wegen einer jugendlichen Schwärmerei?« Er wirkte ehrlich überrascht, und doch verspürte Jude ein leichtes Unbehagen. Immerhin war Harry ein begabter Schauspieler.
Judes Nackenhaare kribbelten. Sein Instinkt hatte ihn noch nie getäuscht. Er sah Harry fragend an. »Ein recht ungewöhnliches Vorgehen für eine junge Dame aus gutem Hause, nicht?«
»Fürwahr.« Harry zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Denkst du, dass sie Hilfe hatte? Jemanden, der den Kontakt zur Zofe herstellte und das Komplott schmiedete?«
»Möglich wär’s.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Einer der Gäste, meinst du?«
Jude neigte den Kopf zur Seite. »Ich dachte an jemanden, der Marissa noch nähersteht.«
Harrys Verwunderung hielt wenige Sekunden an, bevor er die Augen weit aufriss und sich seine Wangen tiefrot färbten. »Meiner Treu! Du beschuldigst doch hoffentlich nicht
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