Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
oder?«
»Ich meine, das ist doch keine Welt mehr für Nachkommen, wer will hier in hundert Jahren noch leben?«
»Ich?«
»Ja, armes Kind. Leicht wird das nicht.«
Ihr Zustand blieb Paula selbst dann verborgen, als jemand von innen gegen die Bauchdecke trat. Sie wunderte sich, es war deutlich zu spüren und von außen als Beule zu erkennen. Sie
dachte an zu viel Cola oder an eine Krankheit, die sich so zeigte, ein Geschwür würde das sein. Den Gedanken, mit dem das zu erklären war, wollte sie nicht denken.
Als es nicht mehr zu verstecken war, reiste sie einfach ab. Abhauen ist genau die richtige Lösung, eine super Lösung, dachte sie.
Inzwischen schleppte sie sich über Feldwege, fand Obdach in Heuschobern, aß in fremden Gärten, sagte nichts, wenn sie angesprochen wurde, ging einfach weiter. Sie wurde immer
schwerer, wankte schon breitbeinig – die Fußgelenke dick geschwollen –, und dennoch hielt sie beinahe trotzig daran fest, sie brauche im Moment genau dieses
Vagabundenleben. In einer Gegend, wo keiner sie kannte. Bis sie ihre Beschwerde ablegen würde, wie man seine ausgediente Jacke im Zug liegen lässt.
HAUS UND HÜTTE
G alle war ein besonders aufmerksamer Mann. Er dankte zum Beispiel den Holzplanken unter seinen Füßen, die ihn schon zeitlebens so
fürsorglich trugen. Eben schritt er über seine Veranda und begrüßte mit einem freundlichen Nicken den angenehmen Schatten unter der Markise, als sei er sein Gast.
Er stellte behutsam ein Glas Orangensaft ab, das er aus der Küche mitgebracht hatte, setzte sich in einen abgewetzten Korbsessel und genoss dessen Stabilität. Eben noch, bemerkte er
wach, war er gehend dort, nun befand er sich sitzend hier; nichts war herrlicher, als auf dem Weg zu sein, keine Strecke war wunderbarer als die vom Kühlschrank in die Sommerluft.
Jeden einzelnen Schluck Saft widmete er zuerst den netten Leuten, die die Orangen geerntet, dann denen, die die Früchte gepresst, schließlich den Männern und Frauen auf
Containerschiffen, die den Transport über die Meere bewältigt hatten, und zuletzt den eifrigen Leuten, die den Saft in Regale stellten, damit er ihn dort finden und kaufen konnte. Er
stieß sogar mit sich selbst auf die reichen Männer an, die jene Filialen besaßen, in denen er den Saft billig erwarb. Mochten sie lange leben und danach ihr Vermögen den Armen
zuteilwerden lassen, die die Orangen für einen Hungerlohn hatten pflücken müssen. Das zu denken war er imstande, bloß das Aussprechen gelang nicht mehr.
Er war gern mit seinen Gedanken bei den Hilfsbedürftigen. Umso interessierter beobachtete er jetzt eine unbekannte Gestalt, die vom Wald her kam und sich Richtung Dorf bewegte, den Kopf
gesenkt, der Schritt schwerfällig, gestützt auf einen dicken Ast. Galle stellte sein Glas ab und rührte sich nicht, im Schatten war er gut verborgen. Das Mädchen näherte
sich seiner Hecke und nahm zuerst zögernd, dann überaus gierig von seinen Himbeeren. Pflückte mit beiden Händen und stopfte die süßen Früchte in ihren Mund.
Galle hielt beinahe die Luft an, bewegte sich keinen Zentimeter und beobachtete gespannt die Gestalt. Sie legte ihre Hand immer wieder an den Rücken und rieb sich den Lendenwirbel, der zu
schmerzen schien. Unterbrach ihr Essen und lauschte ängstlich, ob jemand sie zu verjagen drohte. Nachdem sie augenscheinlich satt war, ging sie weiter bis zur alten Grillhütte und
verschwand darin.
Galle wartete eine halbe Stunde, nichts geschah. Dann stand er vorsichtig auf, näherte sich schleichend der Hütte, lugte hinein und sah die junge Frau auf der harten Bank schlafen. Er
betrachtete sie: Ihr Atem klang wie ein leises Stöhnen, sie roch schlecht. Er betrachtete ihren Bauch, der neben ihr zu liegen schien wie ein Gepäckstück, das an ihr festgewachsen
war.
Er schlich wieder hinaus, drückte sich mit dem Rücken an die Wand und dachte nach, wie nur einer denken kann, der lange nicht mehr hat denken wollen. Wenn er nichts tat, wenn er nicht
sprach, wenn er nicht die Augen offen hielt, dann würde es diesem Lebewesen bald übel ergehen. Es handelte sich hier um eine Frau in einer Situation, in der sie beste Pflege, Sauberkeit
und, ja, eine Apotheke brauchte. Genau, das wars. Schnell rannte Galle hinunter ins Dorf.
Paula öffnete die Augen, als die fremden Schritte verklangen. Sie hatte den Atem dieses Menschen gespürt, hatte stillgehalten, sich schlafend gestellt. Sie wollte allein bleiben, sie
kannte die
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