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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
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dunkle Dorf, den Blick hatte sie gesenkt, das Atmen fiel ihr schwer; es schien, als käme nun der
Moment, in dem auch sie ihre Hoffnung verlor, obwohl die Nacht so herrlich war, warm und sternenklar. Es wird doch mal eine Zeit gegeben haben, wo sich die Menschen gegenseitig halfen. In der
Steinzeit werden sie ihre Steine gemeinsam behauen haben, die großen Brocken schaffte niemand allein, dessen war sie sich sicher. Man war immerhin eine Gemeinschaft. Wo waren die Leute im
Ort, die ihr helfen konnten? Ihre Türen waren verschlossen, die Lichter gelöscht. Endlich hörte sie Stimmen und Gelächter. Die Einwohner hatten am alten Brunnen bei der Linde
ein Lagerfeuer entzündet und hielten ein wahres Gelage, Annie kannte den Anlass dafür nicht. Etwa hundert Menschen, Jüngere und Ältere, ausgelassen wie selten; der Bäcker
warf Brot in die Runde, ein Mädchen brach sich ein Stück ab, stopfte es in den Mund, schnäuzte sich zugleich mit dem Zipfel ihres Hemdes und reichte den Laib weiter. Große
Stücke Wurst, Käse und Gepökeltes wurden an- und abgebissen, einander aus der Hand gerissen. Eine Flasche Schnaps machte die Runde. Annie erkannte den ekligen Kauer, neben ihm Onkel
Hans, sturzbesoffen, manche Leute waren ihr unbekannt. Einer kratzte sich ungeniert die Hoden, ein anderer spuckte, während ein Liebespaar sich so stürmisch umarmte, dass der Frau eine
Brust aus dem Ausschnitt fiel. Laute Fürze stiegen auf, dem alten Postboten riss man die Perücke vom Kopf, bis er weinend vor Scham floh. Annie war allerhand gewohnt, bei diesem Anblick
aber schrak sie zurück. Was war bloß aus den Menschen geworden? Gab es keinen Bürgermeister oder Pfarrer, der einschritt? Am liebsten hätte sie ihr Bundeswehrtarnnetz über
all diese Leute geworfen.
    Drei besoffene Burschen zogen eine ältere Frau hinter sich her, die hysterisch lachte, brachten sie keine fünfzig Meter weiter um eine Hausecke. Ein Hund lief ihr nach, scheinbar ihr
eigener Dackel, kläffte fröhlich. Die Männer griffen der Frau in die Bluse, an den Hintern, packten unter ihren Rock und rupften ihr die Unterhose runter, niemand hinderte sie daran.
Annie geriet in Panik, sie rannte sofort los zum Helfer, klingelte Sturm: Der Apotheker war zu Hause, öffnete, was für ein Glück.
    »Sie überfallen eine Frau!«, erklärte sie außer Atem ihre späte Störung. »Am Brunnen bei der Linde!«
    Er stand in Hausschuhen und Kimono da, griff sich ohne zu zögern die Schlüssel und rief nach hinten: »Hannes?«
    Von drinnen war eine Stimme zu hören: »Gehst du wieder helfen?«
    »Bin gleich zurück, mach dir keine Sorgen.«
    Das Mädchen war von den Geschehnissen des Tages erschöpft, lief immer langsamer, hielt schließlich an und keuchte.
    »Willst du meine Hand?«
    Annie griff fest danach, und er riss sie mit – es war, als flöge sie hinter ihm her, jeder seiner Schritte zwei Meter lang. Es fühlte sich großartig an, mitgezogen zu
werden, ihretwegen hätte es mit ihm bis nach Berlin gehen können. Von dieser Art Vater träumte sie, genau wie der Apotheker müsste er sein, nur nicht im Kimono.
    Die meisten Leute hatten inzwischen das Feuer verlassen und waren dem Geschrei gefolgt. Die Frau quiekte laut, ihre Beine waren breit auseinandergestellt.
    Als der Apotheker eben einschreiten wollte, erkannte er, dass niemand sie malträtierte, sie schrie aus purer Lust am Geschehen. Er wandte sich ab, doch Annie guckte hin, etwas Derartiges
hatte sie noch nicht in ihrem Herbarium: Der Dackel schnüffelte und schleckte die Frau gründlich mit seiner Zunge ab, als schmeckte sie nach Wurstsalat. Annie stand entgeistert der Mund
offen, der Apotheker rieb sich verlegen die Stirn. Er hatte schon viele Tiere an falscher Stelle ertragen müssen, krabbelnde Würmer in Wunden, Kakerlaken in Küchen oder Wanzen in
Betten, aber das hier ekelte ihn ausnehmend. Er schämte sich für jeden Schaulustigen mit, das war wahrlich kein Aufenthaltsort für eine Heranwachsende.
    »Was machst du eigentlich noch so spät draußen?«
    »Sie gucken ja gar nicht hin!«
    »Komm bitte weg von hier.«
    Annie dachte gar nicht daran.
    »Finden Sie das normal?«
    Der Apotheker antwortete nicht.
    »Mag die das? Machen das alle, oder passiert das nur bei uns?«
    »Es kommt mir vor«, meinte er, »als hätte man den Leuten ein Band abgeschnitten, das sie vorher gehalten hat. Der ganze Ort geht durch wie ein wild gewordenes
Pferd.«
    »Hat die Frau was mit ihrem Dackel?«
    »Viele Frauen

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