Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
Vom Netzwerk:
keine Windeln mehr, kein Schuhbinden-Üben im Kindergarten und keine teuren Bilderbücher, die ganze Familie sparte Geld und Arbeit. Man bräuchte nicht mehr ständig
aufzupassen, keinen Babysitter zu bezahlen, keinen Kinderwagen und all die kleinen Klamotten, die sowieso nur kurz passten, die Eltern wären viel entspannter, und ihre Ehen hielten
länger – auch ein Vorteil.
    Allerdings war sich Annie nicht sicher, ob die Frauen zwei oder gar sechs Jahre Schwangerschaft aushielten. Den Armen würde der Bauch ausleiern, und das wäre mit bester Gymnastik nicht
mehr wegzukriegen. Wenn man dieses kosmetische Problem in den Griff bekäme, gäbe es sogar noch eine bessere Lösung: Das Kind würde gleich mit Schulabschluss in die Familie
aufgenommen oder als diplomierter Ingenieur.
    Die Tiere können zwar früh das Wichtigste, aber sie haben keine Wahl, sie müssen bleiben, was sie sind. Die eine Art gräbt ihr Leben lang Höhlen, weil ihre
Gliedmaßen wie Schaufeln sind, die andere baut sich jedes Jahr ein neues Nest im Baum, weil sie Flügel hat. Mit Flossen nutzte das Laufenlernen wenig, die Körpermerkmale bestimmen
die Lebensweise. Ein Fisch fliegt auch nie, es sei denn als Lachs gebraten bei der Lufthansa.
    Die Menschen dagegen hatten keine Schaufelhände, keine Federn und keine Flossen, sie waren im Grunde so schlecht in Schuss, dass man sie als Mangelware zurückgeben müsste.
    Diese Unfähigkeit macht den Menschen erst zum Alleskönner, er ist gezwungen zu lernen, um zu überleben; deshalb gräbt, fliegt und schwimmt er, wohin und wie lang es ihm
beliebt.
    Annie betrachtete ihr Mängelwesen gern, es war freundlich, beruhigte sich in ihren Armen, schlief gut und schaute mit jeder Stunde noch schöner aus als davor. Es schien ihren
wohlwollenden Blick zu genießen. Hatte Nette sie ebenso angeschaut?, fragte sich Annie skeptisch. Kein Kind kann sich aussuchen, in welche Familie es kommt. Eines etwa kriegt einen qualmenden
Vater mit dem Verstand eines Schiffsschaukelbremsers. Der grinst es über der Wiege an, hat schon mit dreißig alle Zähne voller schwarzer Löcher, dazu einen mächtigen
Bierbauch und im Leben nichts gelernt und kaum was getan. Und der soll nun fast zwei Jahrzehnte lang die Erlaubnis haben, einem neuen Menschen Manieren beizubringen. Kauft er Windeln, guten Brei,
Kinderwagen? Hinbringen, wegbringen, schlafen legen, Arzttermine, Fieber, Grippe, Husten, Heulen, Trösten. Bewältigt er das, kümmert er sich? Falls also ein Mensch solch eine Familie
überlebt, macht er schließlich den Führerschein, fährt den Wagen seines Vaters zu Schrott und wird deswegen gnadenlos aus dem Haus geworfen. Ist ohne Arbeit, putzt seine
Zähne nicht, bald werden sie schwarz und fallen aus, er bekommt einen Bierbauch und macht jemandem zufällig ein Kind, und der ganze Mist geht von vorn los. So ungefähr funktioniert
das, glaubte Annie, schaute ihr Baby freundlich an und sagte: »Na gut, du armer Wicht. Herzlich willkommen!«, und gab ihm einen Kuss. »Du bist auch ein Windbefruchter, was?
Vielleicht ist das in unserer Familie so üblich. Hunger hast du bald wieder? Und an die Luft willst du mal? Okay, das können wir morgen machen, dann bist du groß genug dafür.
Ich muss schlafen, einverstanden? Hundemüde bin ich, verdammt. Komm, leg dich zu mir. Puh, bist du anstrengend. Hast du das gehört? War da nicht ein Geräusch? Das Knacken eines
Astes? Ging irgendwo bei uns eine Tür?«
    Sie setzte sich auf, horchte, vernahm nichts weiter und legte sich zurück: »So, und jetzt kommt der Hammer – schläfst du schon? –, was glaubst du, was ein
Mensch wert ist? Ich sag es dir: sechzig Cent. Wir sind bloß Wasser und etwas Chemie, kosten fast nichts. Aber wenn ich dich so anschaue, bist du teurer als alles andere, bist viel mehr wert.
Und ich würde sonst was tun, damit du es gut hast.«
    Annie konnte sich nicht erklären, was nun geschah. Sie kümmerte sich um das Baby, saß am darauffolgenden Morgen mit ihm in der Küche und ernährte es,
wie es sich gehörte. Sie hatte in den letzten Tagen auf alles verzichtet, auf die frische Luft zum Beispiel, war nicht mehr mit bloßen Füßen durch den Bach gelaufen oder auf
einen Baum geklettert, weil sie sich verantwortlich gefühlt hatte für ihre sechzig Cent. Sie hatte das Gefühl gehabt, sie werde beobachtet, aber wer sollte das tun? Hier war doch
keiner.
    »Wie kann dieses Mädchen sich ein Kind im Bauch wachsen lassen, es mühsam kriegen und dann

Weitere Kostenlose Bücher