Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
Hilfe so nötig hatten, ihr jede Illusion.
Die Tür zum Büro wurde geöffnet, und Anna atmete tief durch. Was würde ihre Schwester von Mr. Archer halten? Wie würde der Gentleman die Begleitung durch ihre Schwester aufnehmen?
Insgeheim straffte sie die Schultern, als sie sich zu ihm umwandte. Er schloss die Tür, nahm den Hut ab und verbeugte sich.
„Miss Fairchild, es ist mir ein Vergnügen, Sie heute Morgen wiederzusehen.“
Obwohl die Höflichkeit verlangte, dass er genau das zu ihr sagte, drangen seine Worte tief in ihr Herz. Der Klang seiner Stimme zeugte davon, wie ehrlich er es meinte, und in solchen Momenten fragte Anna sich, wie es möglich war, dass er manchmal so sarkastisch sein konnte. Nun, der Augenblick war gekommen, ihm ihre Schwester vorzustellen. Jetzt würde er doch wohl sicher seine wahren Manieren offenbaren.
„Ihnen auch einen guten Morgen, Mr. Archer. Darf ich Ihnen …“, sie trat beiseite, damit Julia nach vorne kommen konnte, „ … meine Schwester vorstellen. Miss Julia Fairchild.“
Stolz erfüllte ihr Herz, als Julia auf Mr. Archer zuging und ihren hübschesten Knicks machte. Sein Gesichtsausdruck verschlug ihr die Sprache. Zum ersten Mal entdeckte sie so etwas wie Zärtlichkeit in seiner Miene. Einen Moment lang presste er die Lippen zusammen, als müsste er einen Ausruf unterdrücken, und er lauschte Julias Begrüßung mit unerklärlicher Ergriffenheit.
„Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Sir.“ Julias Stimmchen war noch immer das eines Kindes, aber ihre Manieren waren makellos. „Ich danke Ihnen, dass Sie mich an Ihrem Ausflug zum Schloss teilnehmen lassen.“
Der bewegte Gesichtsausdruck vertiefte sich einen Augenblick lang, dann bekam Mr. Archer seine Gefühle in den Griff und wurde wieder ganz der Gentleman. Er räusperte sich und beugte sich über die Hand ihrer Schwester. „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Miss Julia.“
Er nickte ihr zu und öffnete die Tür. „Die Kutsche und die Kronjuwelen erwarten uns, meine Damen. Wenn Sie bereit sind.“
Anna sagte nichts, behielt ihn aber weiterhin im Auge, während er Julia – die keinen Moment zu plappern aufhörte – mit jetzt beherrschter Miene betrachtete. Sie sagte auch nichts, als sie in die Kutsche stiegen und die Princes Street hinunterfuhren. Erst nachdem sie die Queensferry Road erreicht hatten, erbarmte sie sich Mr. Archers und unterbrach ihre Schwester.
„Julia, bitte sitz still, und erlaube Mr. Archer, die Fahrt entlang der Esplanade zu genießen.“ Julia warf ihr einen aufmüpfigen Blick zu, doch dann setzte sie sich brav in eine Ecke und blieb eine Weile still.
„Es macht mir nichts aus, Miss Fairchild. Miss Julia hat mir in diesen wenigen Minuten mehr über die ‚Honours of Scotland‘, die Kronjuwelen, erzählt, als ich in stundenlanger Lektüre hätte erfahren können.“ Er sprach mit einer Wärme, die sie noch nicht an ihm erlebt hatte. „Sie erinnert mich in vieler Hinsicht an meine eigene kleine Schwester.“
„Sie haben eine Schwester, Sir? Das wusste ich nicht. Wie alt ist sie?“
Er senkte kurz den Blick, und Anna erkannte, dass er bedrückt war. Aber warum?
„Amelia wäre im kommenden November dreizehn Jahre alt geworden … leider ist sie gestorben.“
Seine Stimme klang rau, tiefer Schmerz sprach aus ihm. Anna wurde klar, dass es besser gewesen wäre, ihre Schwester nicht mitzubringen. Ohne zu zögern, legte sie die Hand auf seine. Selbst durch die Handschuhe hindurch spürte sie seine Wärme.
„Verzeihen Sie mir, Sir. Ich hätte es nicht getan“, sie warf Julia einen schnellen Blick zu, „wenn ich geahnt hätte, dass es Ihnen Schmerz bereiten würde.“
In diesem Moment geschah etwas – etwas Wichtiges, etwas, das sie tief berührte. Anna spürte es und erschauerte vor der Intensität in seinen Augen. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen und ihm den Trost gegeben, den man ihm verweigert haben musste, als er ihn bitter nötig gehabt hatte.
Für sie war ihre Schwester ihr ganzes Leben. Jede Entscheidung fällte sie in Hinsicht auf Julias Zukunft und Wohlergehen. Wie würde ihr Leben ohne Julia sein? Wie hätte sie ohne sie weiterleben können? Es war unerträglich, sich auch nur vorzustellen, wie sehr Mr. Archer unter so einem Verlust leiden musste. Erst Julias Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und Anna nahm ihre Hand wieder fort.
„Anna, Mr. Archer, seht doch! Ich habe gelesen, Robert the Bruce und seine Männer sind dort
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