Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
hinaufgeklettert, um ins Schloss einzudringen und es zu erobern.“
Julia wies auf die steile Wand aus dunklem Fels, der an der Seite der Straße so abrupt nach oben schoss, dass sein oberer Rand von hier unten nicht zu sehen war. So schroff, unglaublich steil und uneben war sie, dass Anna sich nicht vorstellen konnte, wie jemand sie bestiegen hatte, ohne dabei das Leben einzubüßen. Obwohl sie seit so langer Zeit im Schatten des Schlosses lebte, ließ ihr Staunen nicht nach über das eindrucksvolle Gebäude und den atemberaubenden Ausblick, den man nicht nur von dort oben, sondern auch von hier unten hatte.
„Es gab keinen anderen Weg in eine solche Festung“, sagte Mr. Archer. „Der Earl of Moray nahm List und Bestechung zu Hilfe, um eine Schwachstelle zu finden.“
„Dann kennen Sie also die Geschichte, Mr. Archer?“, fragte Julia aufgeregt. „Moray war eifersüchtig auf die Errungenschaften des Black Douglas und schwor, ihn bei Robert the Bruce als Heerführer auszustechen“, fuhr Julia fort.
„Doch die Liebe trug den Sieg davon“, warf Mr. Archer ein. „Siehst du jene kleine Vertiefung auf der rechten Seite?“
Anna folgte der Richtung, in die er wies, und Julia, glücklich, dass jemand ihre Leidenschaft für die schottische Geschichte teilte, wandte sich um. „Ich sehe es“, rief sie.
„Dort versteckte ein hiesiger junger Mann, dessen Vater im Schloss arbeitete, eine Strickleiter. Wann immer der junge Mann die Frau besuchen wollte, die er liebte und die dort unten lebte …“, er wies auf eine Reihe von engen Gässchen, denen sie sich langsam näherten, „… benutzte er die Strickleiter, um hinunterzuklettern und um vor Tagesanbruch zurückzukehren.“ Er senkte dramatisch die Stimme.
Julia seufzte begeistert, und Anna unterdrückte ein Lächeln.
„Morays Gold veranlasste ihn, die Existenz der Leiter zu verraten“, fuhr er fort. Miss Julia war bezaubert, genau wie auch er, als er die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte. David ahnte, dass sie die Einzelheiten wahrscheinlich besser kannte als er, aber sie fiel ihm nicht ins Wort.
Das Herz brach ihm, wenn er dieses kleine Mädchen ansah. Ein Blick auf Julia mit ihrem jugendlichen Lächeln, den höflichen Manieren und der lebensfrohen Überschwänglichkeit, und es schien ihm, seine verstorbene Schwester Amelia stünde wieder vor ihm. Auch jetzt noch fiel es ihm schwer zu sprechen, und er musste sich bemühen, sie nicht anzustarren.
Bis zu diesem Moment war ihm nicht bewusst gewesen, wie sehr Amelia ihm gefehlt hatte. Obwohl sie so viel jünger gewesen war als er, hatte er große Zärtlichkeit für sie empfunden. Ihren Tod hatte er nie wirklich verwunden.
„Und auf diese Weise gelang es Robert the Bruce, das Schloss zu erobern“, fügte er noch hinzu und betrachtete seine beiden Zuhörerinnen. So wie es ihm das Herz erwärmt hatte, als Miss Fairchild … Anna … ihre Hand mitfühlend auf seine gelegt hatte, so tat es auch jetzt der Anblick der schönen Gesichter der jungen Damen.
„Bravo, Mr. Archer! Ich kenne niemanden, der die Geschichte so gut kennt“, lobte ihn Julia. „Ich bin richtig überrascht. Sie sind nur ein Besucher unserer Stadt, und doch kennen Sie sie so gut.“
Er musste lachen. Nach den ersten wenigen Augenblicken hatte er mit dem Schlimmsten gerechnet, jetzt allerdings begann er den Tag zu genießen. Miss Fairchild entspannte sich sichtlich und hörte zu, wie er und Julia ungezwungen miteinander weiterplauderten. Schon bald ließen sie die Gegend des Grassmarket, des Viehmarkts, hinter sich und erreichten den Schlosshügel. Der Fahrer war vertraut mit der steilen Straße, und nach kurzer Zeit konnten sie am Tor aussteigen.
Von dort wurden sie in einem Wagen, von stämmigen Arbeitspferden gezogen, zum Crown Square gebracht. David half seinen beiden Gästen hinunter auf das Kopfsteinpflaster. Mit der Sicherheit eines Menschen, der sich auskannte, führte Miss Julia sie zur Tür des Saales, in dem die Juwelen ausgestellt waren, und geleitete sie mit der Zustimmung der Wache hinein.
Die mit Edelsteinen besetzte Krone, das Zepter und das Staatsschwert bildeten selbstverständlich den Mittelpunkt der Ausstellung, doch noch mehrere andere königliche Embleme und Roben waren zur Ansicht im Raum verteilt. Miss Julia vergeudete allerdings keine Zeit darauf, sondern hielt geradewegs auf die Vitrine zu, in der die wichtigsten Stücke aufbewahrt wurden.
„Haben Sie sie schon vorher einmal gesehen, Mr. Archer?“,
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