Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
flüsterte sie, und ihre Schwester lächelte, als wäre sie amüsiert über den ehrfürchtigen Ton bei einem Mädchen, das unter normalen Umständen kaum jemals die Stimme senkte. „Kommen Sie näher“, befahl Julia ihm begeistert.
David fiel auf, dass Miss Fairchild sich zurückhielt, also ging er auf sie zu, hielt ihr den Arm hin und zog sie mit zu der Vitrine. „Ich gebe zu, es ist mein erstes Mal, Miss Julia. Zwar habe ich viel darüber gelesen und auch darüber, wie Mr. Scott sie im vergangenen Februar in einer Kiste entdeckte.“ Er führte die ältere Miss Fairchild an eine Stelle, von der sie besser sehen konnte.
Trotz der frühen Stunde hatte sich der Raum schon mit vielen Besuchern gefüllt, die einige der ältesten und kostbarsten Juwelen der Welt bewundern wollten. David bahnte sich geschickt einen Weg um mehrere Leute herum und brachte Miss Fairchild an die Seite ihrer Schwester.
Sosehr ihn die Juwelen und deren Glanz auch beeindruckten, bezauberte ihn vor allem die Frau an seiner Seite. Dass ihre Schwester ihr sehr viel bedeutete, war dabei nicht der einzige Grund, weshalb sie ihn faszinierte. Es gab so viel, was er über sie wissen wollte.
Inzwischen sprachen er und Julia über die Ausstellungsstücke. Sie wusste, warum das Schwert leicht verbogen war, er wusste, wann es geschehen war. Sie kannte die Namen der einzelnen Edelsteine in der Krone, er wusste ihr Gewicht und die Größe. Sie machten ein Spiel daraus, bei dem jeder den anderen auszustechen suchte.
Miss Fairchild lachte und stellte Fragen, um die beiden Konkurrenten anzuspornen, und David vergaß darüber sogar fast seine verstorbene Schwester. Als sie den Saal verließen und den Weg zum Aussichtspunkt weiterschlenderten, während Miss Julia schon hüpfend vorauseilte, gewann seine Neugier schließlich die Oberhand.
„Erzählen Sie mir von Ihrer Familie, Miss Fairchild. Haben Sie außer Miss Julia noch weitere Geschwister?“ Ihr kurzes Zögern, obwohl kaum merkbar, fiel ihm dennoch auf. „Wenn das eine zu persönliche Frage sein sollte, bitte ich um Verzeihung.“
David ging mit ihr bis zu der Mauer, sodass sie ganz New Town unter sich sehen konnten. Nach jahrzehntelangem Stillstand war eine wahre Bauwut ausgebrochen. Bald schon würden die Gebäude und Wohnhäuser sich zum Norden der Stadt und bis zum Meer ausgebreitet haben. Als sie stehen blieben, wandte sie sich zu ihm um.
„Nicht zu persönlich, Mr. Archer, nur nicht besonders interessant. Außer mir und Julia gibt es niemanden. Meine Eltern starben vor einigen Jahren – mein Vater, Sir Donald Fairchild, zuerst und dann meine Mutter.“ Sie hielt kurz inne. „Wir leben mit der Schwester meiner Mutter, meiner lieben Tante Euphemia, zusammen. Auf der anderen Seite des Leith in der Nähe von Stockbridge.“
„Ich dachte, es besteht vielleicht eine Familienbeziehung zu Nathaniel.“
„Nein, keine. Wir sind durch seine Schwester Clarinda miteinander verbunden. Kennen Sie sie?“ Sie ging weiter, und er folgte ihr. Julia war ihnen immer noch einige Schritte voraus.
„Nein. Aber ich habe gehört, dass sie gemeinsam mit ihrem Gatten in der Stadt ist, um ihren Bruder zu besuchen.“
Sie seufzte. Ein ganz unschuldiges Ausatmen, mehr nicht, und dennoch ließ es David erschauern. Er wollte dichter an sie herantreten, um diesen Atem zu spüren, während er über ihre süßen Lippen kam. Hastig räusperte er sich, um seine Erregung in den Griff zu bekommen.
„Ich kann natürlich verstehen, dass ihre Besuche seit ihrer Heirat eingeschränkt sein müssen, aber sie fehlt mir, wenn sie nicht hier ist.“
Sie hatte sich ihm anvertraut und ihm damit etwas über ihr Leben und ihre Persönlichkeit verraten. Er war nur zu einem Zweck nach Edinburgh gekommen, und der war ganz gewiss nicht, mit einer attraktiven, unverheirateten jungen Dame zu flirten. Trotzdem würde er sich die Zeit hier in ihrer Gesellschaft vertreiben können, bis der Tag kam abzureisen. Und seine Abreise schien nahe zu sein, jetzt, da eine Art Übereinkunft mit Nathaniel getroffen war.
„Warum besuchen Sie sie dann nicht? Erlaubt es ihr Gatte nicht?“ Nathaniel hatte ihm nur Gutes über Lord MacLerie berichtet, und er würde wohl kaum einen grausamen oder herzlosen Schwager billigen.
„Ich fürchte, das käme nicht infrage, Mr. Archer, sosehr ich es vielleicht auch wünschte.“ Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf ihre jüngere Schwester.
„Ich verstehe. Familienverpflichtungen. Das ist eine Last, die
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