Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
deutlich vor sich. Wie sollte sie es nur schaffen, sich wieder an die Normalität ihres Lebens zu gewöhnen, wenn er nach London abreiste? Ein Geräusch im Flur ließ sie die Augen öffnen. Seltsamerweise sah sie immer noch sein Gesicht.
„Miss Fairchild?“
Und sie hörte seine Stimme.
Benommen riss sie sich aus ihrem Tagtraum und stellte fest, dass Mr. Archer tatsächlich vor ihr stand. Er hielt den Hut in einer Hand und trat auf ihren Schreibtisch zu … auf dem der Entwurf für A. J. Goodfellows nächsten Artikel lag. Während sie die Papiere in eine Mappe schob, ließ sie Mr. Archer nicht aus den Augen und schickte insgeheim ein Stoßgebet zum Himmel, dass er nichts gesehen haben mochte.
„Mr. Archer, vergeben Sie mir“, sagte sie, stand auf und knickste höflich. „Ich habe Sie nicht hereinkommen hören.“
„Sehr wahrscheinlich hat das Prasseln des Regens es übertönt.“
Anna sah zum Fenster hinaus. Wirklich, es regnete. Sie war so in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass sie seit Stunden nichts um sich herum wahrgenommen hatte. „Oh, das Wetter.“ Erst jetzt bemerkte Anna, dass Mr. Archers Mantel nass war. Jetzt fiel ihr Blick auf eins der jüngeren Mädchen, das hinter ihm hereingekommen war.
„Ja, Molly?“
„Mrs. Dobbs will wissen, ob Sie Tee für Ihren Besuch möchten, Miss.“ Molly stockte jedes weitere Wort in der Kehle, als Mr. Archer sich umdrehte und ihr zulächelte.
„Ja, bitte, Molly“, antwortete er und wandte sich dann wieder an Anna. „Falls Miss Fairchild es erlaubt, heißt das.“
„Aber natürlich, Sir. Molly, bitte Mrs. Dobbs, uns Tee zu schicken.“
Das Mädchen schien immer noch ein wenig benommen von seiner Aufmerksamkeit, und da Anna dieses Gefühl nur allzu gut nachempfinden konnte, räusperte sie sich laut. Molly knickste hastig, und nach einem letzten Blick auf den Besucher ging sie hinaus.
„Sie ist noch neu hier und soll lernen, die Arbeit eines Hausmädchens zu erledigen.“
„Also lehrt Ihre Schule mehr als nur Schreiben und Rechnen?“ Er ging zum Schreibtisch und wies auf den Sessel. „Wenn ich darf?“
„Ja, bitte, Sir. Und um Ihre Frage zu beantworten – die Mädchen lernen viele Dinge, die sie später brauchen werden, wenn sie von hier fortgehen.“ Es fiel ihr schwer, davon zu sprechen, also unterbrach sie sich und nahm ebenfalls Platz. Mr. Archer hatte die letzte Ausgabe von „Whiteleaf’s“ in die Hand genommen.
„Wie ich sehe, sind Sie immer noch verärgert über Lord Treybournes Artikel. Selbst jetzt noch, nach über einer Woche?“ Er überflog den Text schnell, und Anna fiel auf, dass er bei seiner Lektüre missbilligend die Lippen zusammenpresste.
„Seine Worte sind abscheulich und unnötig herausfordernd. Das sehen Sie doch sicher auch? Statt über die Fragen zu sprechen, die Mr. Goodfellow aufgeworfen hat, verlegt er sich auf persönliche Angriffe.“
„Wenn ich mich recht erinnere, war es Mr. Goodfellow, der mit dieser Art Angriffen anfing. Und zwar nannte er Lord Treybourne ausdrücklich den Repräsentanten einer gefühl- und teilnahmslosen Regierung und beschuldigte ihn – wie waren noch die Worte? Ach ja, er bereichere sich an dem Los der Armen und Unglücklichen in unserem Land.“ David beugte sich in seinem Sessel vor und stützte die Arme auf die Knie. „Würden Sie das nicht als den ersten Angriff bezeichnen?“
Doch dann begegnete sie seinem Blick und vergaß plötzlich jedes ihrer Argumente. Mr. Archer saß so dicht vor ihr, dass es ihr, die sonst so wortgewandt war, sogar schwerfiel zu atmen, geschweige denn, ihm zu antworten.
„Vermutlich, Sir, aber …“
„Vermutlich? Kommen Sie, Miss Fairchild, ich hätte Ihnen mehr Ehrlichkeit zugetraut. Lord Treybourne hat nicht …“
„Was hat er nicht, Sir? Hat er nicht seine Macht und Verbindungen benutzt, um Mr. Goodfellows Position zu unterminieren? Ihre Anwesenheit hier in Edinburgh ist doch der Beweis.“
„Ich bin auch aus eigenem Antrieb hier, wie ich, wenn ich mich recht erinnere, Nathaniel erklärte.“ Seine Gelassenheit geriet allmählich ins Schwanken. Zu Annas Zufriedenheit schien auch er um Worte ringen zu müssen.
„Ja, ich erinnere mich. Sagten Sie nicht, Sie seien auf der Suche nach Grundstücken hier in New Town?“
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Obwohl ich das als Erklärung vorschob, um Ihnen nicht meine Absichten mitteilen zu müssen, habe ich tatsächlich einige Gebäude im Osten der Stadt erworben.“
„Für
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