Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
zweite Schule öffnen können. Und wenn die Zeitschrift eine größere Zirkulation erreicht, werden auch sehr viel mehr Menschen auf die vielen Probleme aufmerksam gemacht werden. So viele junge Frauen haben unsere Hilfe bitter nötig. Doch sollte die Auseinandersetzung zwischen dem Earl und Goodfellow zu einem persönlichen Zwist werden und sollten die wahren Gründe für das Elend so vieler Menschen nicht mehr im Mittelpunkt stehen, wird unsere Arbeit fehlschlagen.“
Er hob die Tasse und leerte sie in einem Zug. „Und warum interessieren Sie sich für diese Dinge?“
„Als mein Vater starb, musste ich genau wie diese Frauen in herrschaftlichen Häusern arbeiten. Meine Stellung als Gouvernante war natürlich in gewisser Weise bevorrechtigt …“ Sie schluckte mühsam. „Aber ich wurde Zeugin des abscheulichen Benehmens von Seiten dieser sogenannten Gentlemen.“
Mr. Archer sah jetzt so grimmig und ernst aus, dass sie fürchtete, sie war zu weit gegangen. Wenn er Lord Treybourne einweihte, würde es diesen keine Mühe kosten, ihre Arbeit hier zu zerstören. Er brauchte nur in Erfahrung zu bringen, wer sie mit Spenden unterstützte, und durch ein diskretes Wort in das richtige Ohr jegliche Mittel versickern lassen.
„Ich werde darüber nachdenken, Miss Fairchild.“ Er stand auf und nahm seinen Hut vom Schreibtisch. „Sie sind von mir bei der Arbeit unterbrochen worden, und ich sollte Sie dazu zurückkehren lassen. Noch einen schönen Tag.“
Der Mann, der sich jetzt von ihr verabschiedete, war ein völlig anderer als jener, der kurze Zeit zuvor hereingekommen war. Ihr schauderte, und sie fürchtete, dass es besser gewesen wäre, auf Nathaniels Warnungen zu hören.
„Mr. Archer, hat irgendetwas Sie hergeführt?“
„Oh ja. Eine Nachricht von Lady MacLerie.“
„Clarinda? Wann haben Sie sie gesehen?“
„Ich erledigte gerade eine Besorgung, als ich ihr begegnete. Sie bat mich, Sie an eine Dinnerverabredung bei ihr zu Hause zu erinnern.“
„Ach ja?“ Anna stand auf und kam zur Tür. „Ich danke Ihnen für die Nachricht, Mr. Archer.“
„Guten Tag, Miss Fairchild.“ Und damit ging er in den Gang hinaus und die Treppe hinunter.
Nur einen Moment kämpfte Anna gegen den Wunsch an, ihm nachzusehen. Dann eilte sie zum Fenster und blickte in den dichten Regen hinaus. Mr. Archer schickte gerade die Mietkutsche fort, die er immer benutzte, und ging mit langen Schritten die High Street in Richtung South Bridge hinunter. Er würde sehr bald völlig durchnässt sein, so heftig regnete es. Anna sah ihm nach, so lange sie ihn noch ausmachen konnte, dann wandte sie sich nachdenklich ab.
Hatte sie ihn doch falsch eingeschätzt? Was war geschehen, das seine Stimmung so völlig umschlagen ließ? Irgendetwas hatte ihn betroffen gemacht – aber was?
Hatte sie alles, wofür Nathaniel und sie gearbeitet hatten, in Gefahr gebracht? Und jetzt, da er nicht in der Stadt war, konnte sie nicht einmal mit ihm darüber reden.
12. KAPITEL
David spürte den unwiderstehlichen Drang, etwas zu zerbrechen, aber als er das Glas gegen die Wand warf, brachte es ihm nicht annähernd so viel Erleichterung, wie er gehofft hatte.
Auf dem Weg zu Anna hatte er nur die Absicht gehabt, sich bei ihr für sein Benehmen im Theater zu entschuldigen und sie vielleicht zu einem weiteren Ausflug zu verlocken. Doch kaum hatte er ihr Büro betreten und den besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen, da war er bereit, alles zu tun, um ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern.
Sein Artikel auf ihrem Schreibtisch und das Wissen, dass sie sich deswegen Sorgen machte, hatten den Wunsch in ihm geweckt, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten. Er hatte ihr Versprechungen machen wollen, die ihm bei keiner anderen Frau auch nur in den Sinn gekommen wären.
Was war nur mit ihm geschehen?
Er brauchte Anna nur in ihrer Verzweiflung zu sehen, und schon vergaß er seine feste Absicht, ihr nur freundliches Interesse entgegenzubringen. Als sie sich ihm anvertraute und ihm erklärte, warum ihr so viel an dem Schicksal der jungen Mädchen lag, hatte er erkannt, dass die Frau, die seine Gefühle so aufwühlte, entsetzt sein würde über die Sünden seiner Vergangenheit.
Der Earl of Treybourne, einer der begehrtesten Junggesellen auf dem Heiratsmarkt und einer der wohlhabendsten Männer des Königreiches, hatte die einzige Sünde begangen, die Miss Fairchild ihm niemals verzeihen könnte.
Er hatte eine junge Bedienstete verführt. Als sie dann ein Kind
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