Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
Ihre Mutter tot ist und bis Sie bei Ihrer Tante einzogen, allein Ihre Schwester großzogen. Und ich merkte, dass Sie sich um Ihre unglücklichen Mitmenschen kümmern und alles tun, um ihnen zu helfen. Doch dann wurde mir auch bewusst, wie sehr meine bloße Anwesenheit hier die Aufmerksamkeit meines Vaters auf sich ziehen musste. Und falls er herausfinden sollte, was ich wusste, würde er alles, was Ihnen lieb ist, zerstören.“
Anna sah aus, als wäre sie einer Ohnmacht nahe, und er hielt einen Moment inne und nahm ermutigend ihre Hand.
„Es ist nicht David Archer, der die Fassade ist, sondern Lord Treybourne. Wir teilen dieselben Ansichten über so viele Dinge. Aus persönlichen Gründen unterstütze ich in London mehrere wohltätige Unternehmen. Um das allerdings tun zu können, musste ich mich auf einen Handel mit meinem Vater einlassen, sonst hätte ich keinen Zugriff auf mein Geld. Wenn ich nicht die Rolle spiele, die er mir zugeteilt hat, verliere ich die Mittel, und viele bedürftige Menschen verlieren meine Hilfe.“
Inzwischen hatte Anna sich ihm wieder zugewandt, und er sah ihrem Blick an, dass sie sein Dilemma sehr wohl verstand.
„Wenn ich fortfahre, den Willen meines Vaters auszuführen, unterminiere ich eben jene politischen Kräfte, die dieselben Ziele verfolgen wie ich. Wenn ich es nicht tue, verlieren Menschen, die sich auf mich verlassen, ihre einzige Stütze.“
„Was Sie auch tun, es befreit Sie nicht aus Ihrem Dilemma.“
Er nickte. „Und dann begegne ich einer jungen Frau, die mich mit ihren eigenen Bemühungen beschämt. Die gelernt hat, niemals aufzugeben und niemals ihre Ziele aus den Augen zu lassen.“
„Ich bin keine Heilige, Mylord. Sie ahnen meine Fehler nicht“, flüsterte sie. „Und nun?“
Anna war noch ganz betäubt von seiner Enthüllung. In einer Hinsicht machte sie alles viel besser und in anderer Hinsicht viel schlimmer. Zwar hatte er ihr nachspionieren lassen, ihre intimsten Geheimnisse jedoch nicht entdeckt. Zumindest erwähnte er sie nicht.
Ein Geräusch ließ sie aufblicken, und sie sah, dass Clarinda und Robert sich in einiger Entfernung von ihnen unterhielten. Anna lächelte über ihre Fürsorge. Ihre lieben Freunde wollten sie nicht allein lassen, blieben aber fern genug, um ihr Gespräch mit Seiner Lordschaft nicht zu unterbrechen.
„Mein Vater verlangt nach dem Blut eines schottischen Reformers namens Goodfellow, und ich muss einen Weg finden, um ihn zu besänftigen.“ Er drückte sanft ihre Hand. „In letzter Zeit denke ich an nichts anderes als daran, dass ich Sie zu meiner Frau machen möchte. Doch das brächte seinen Zorn auf Sie herab und alles, was Ihnen so wichtig ist.“
„Wenn wir selbstsüchtig wären, würden wir alles, wofür wir uns eingesetzt haben, verlieren“, sagte Anna und wusste, dass sie nicht auf Kosten anderer glücklich sein konnte. „Ich brächte es nicht über mich. Nicht einmal, um mit Ihnen zusammen sein zu können.“
„Ich auch nicht, sosehr ich mir auch wünschte, Sie an meiner Seite zu wissen.“
Es blieb nichts mehr zu sagen. Als hätten die MacLeries gespürt, dass die Unterhaltung vorbei war, kamen sie herüber, und Clarinda legte einen Arm um ihre Freundin. Anna sah sich nicht wieder nach David um, weil sie es dann nicht ertragen hätte, ihn allein auf der Straße stehen zu lassen.
19. KAPITEL
„Das hier ist sehr seltsam, Robert.“
Anna hielt ihm ein Schreiben von der Bank hin und wartete, bis er es durchgelesen hatte.
„Wie es scheint, ist die Hypothek für die Schule vollkommen getilgt worden, und die Transaktion wird hiermit bestätigt.“
„Ich kann die Worte lesen, aber ich verstehe dennoch nicht“, wandte Anna ein.
„Nun sag es ihr doch endlich.“
Clarinda kam gerade in das Arbeitszimmer ihres Gatten und schickte dessen Sekretär mit einem Nicken hinaus. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, herrschte einen Moment unbehagliche Stille. Dann fragte Anna: „Was sollst du mir sagen, Robert?“
„Ich habe diese Transaktion im Auftrag von Treybourne durchgeführt.“
Fassungslos musste Anna sich erst einmal setzen und blickte wortlos von einem zum anderen. Doch war das anscheinend noch nicht alles, wie sie ihren Mienen ansehen konnte. „Er besitzt jetzt die Hypothek auf die Schule?“, fragte sie entsetzt.
„Du verstehst nicht, Anna. Treybourne hat die Hypothek getilgt. Die Schule gehört jetzt ganz dir.“
„Das verstehe ich nicht. Warum sollte er so etwas tun?“
Clarinda legte
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