Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
ihr die Hand auf die Schulter. „Anna, ist irgendetwas Unziemliches zwischen dir und ihm vorgefallen, bevor Mr. Archer Edinburgh verließ?“
„Etwas Unziemliches?“
„Irgendetwas sehr persönlicher Natur. Etwas, das du vielleicht lieber mit meiner Frau allein besprechen möchtest?“, fügte Robert verlegen hinzu.
Anna hätte fast gelacht über sein Unbehagen.
„Hat es eine Kränkung deiner Ehre gegeben, Anna?“, fragte Clarinda.
„Ich bitte dich, Clarinda. Du und Robert kennt die Wahrheit über meine Ehre. Nein, er hat mich in keiner Weise gekränkt.“ Sie sprang auf und ging unruhig auf und ab. „Ich komme mir so dumm vor. Wie habe ich nur so leicht auf seine Lügen hereinfallen können?“
Robert führte sie mit fester Hand zu ihrem Stuhl zurück und sah ihr ernst in die Augen. „Du warst so sehr damit beschäftigt, dich in ihn zu verlieben, dass du seine Täuschung nicht bemerkt hast. Und ich nehme an, Treybourne war so damit beschäftigt, seine Täuschung aufrechtzuerhalten, dass er nicht merkte, wie er sich in dich verliebte.“
Anna nickte ein wenig getröstet. „Aber warum musste er vorgeben, jemand anders zu sein?“
Robert räusperte sich. „Es gibt da noch etwas.“
„Ja?“, fragten beide Frauen fast gleichzeitig.
„Nathaniel und ich trauten den Motiven Seiner Lordschaft nicht ganz, und so veranlasste ich eine Untersuchung seiner Vergangenheit.“ Robert trat wieder an den Schreibtisch, öffnete eine der Seitenschubladen und holte eine Mappe heraus. „Dies erhielt ich kürzlich aus London. Allerdings bestand keine Notwendigkeit für die Nachforschungen, wie es aussieht, denn Teybourne hat ja offenbar selbst eingesehen, dass er dir eine Erklärung schuldete.“ Danach holte er jedoch einen Brief heraus, der aus mehreren beschriebenen Blättern bestehen musste. Das Siegel des Briefes war allerdings bereits geöffnet worden.
„Du hast ihn gelesen?“, fragte Clarinda.
„Ja. In einem Gespräch schlug Treybourne vor, ich solle es tun, um Bedenken, die ich haben mochte, zu beschwichtigen.“
„Robert!“, rief Clarinda empört. „Du hast ihn gelesen, bevor Anna es tun konnte?“
Er nahm ihre Hand. „Da sie deine liebste Freundin ist, obliegt sie auch meiner Verantwortung, Clarinda. Ich las die Papiere zu ihrem Schutz, wie ich es auch getan hätte, wenn sie meine Schwester gewesen wäre oder deine.“
Wie nicht anders zu erwarten, wischte Clarinda sich verstohlen Tränen der Rührung von den Wangen und drückte die Hand ihres Mannes.
„Komm, meine Liebe, ich denke, Anna wird allein bleiben wollen.“
Als sich die Tür hinter den beiden schloss, ging Anna um den Tisch herum und setzte sich in Roberts Ledersessel, Davids Brief in der leicht zitternden Hand. Ungeschickt öffnete sie ihn und begann zu lesen.
Miss Fairchild,
Anna,
dies ist das erste Mal, dass Sie meine Worte lesen. Nicht die Lord Treybournes, sondern die von David Lansdale, dem Mann, der Sie bei seinem Besuch in Edinburgh kennenlernte. Meine Niedertracht und die Täuschung, die ich verübte, sind bereits entlarvt worden. Zwar habe ich versucht, Ihnen meine Gründe zu erklären, aber ich habe Sie nie um Vergebung gebeten. Und wenn Sie sie mir nicht gewähren, kann ich das gut verstehen.
In der Zwischenzeit haben Sie gewiss den Grund, weswegen ich meine wahre Identität verheimlichte, mit Nathaniel und Lord MacLerie besprochen. Doch keiner von beiden kennt den wahren Grund, und ich möchte Sie jetzt darüber aufklären.
So wie Sie Ihre wohltätige Arbeit schützten, indem Sie kaum jemanden darin einweihten, so tat auch ich es.
Aufgrund meines unverantwortlichen, abscheulichen Benehmens in meiner Jugend wurde eine junge Frau kompromittiert und starb später bei der Geburt ihres Kindes. Mir ist bewusst – vor allem wegen Ihrer schmerzlichen persönlichen Erfahrung und wegen der vielen jungen Mädchen, denen Sie aus eben einer solchen schwierigen Lage helfen –, dass dies für Sie die einzige Sünde ist, die Sie nicht vergeben können. Wenn etwas Gutes aus meiner Tat erwuchs, dann nur die Erkenntnis, für meinen Fehler büßen zu müssen.
Ihr Magen zog sich schmerzlich zusammen. Er hatte dasselbe Verbrechen an einer jungen Frau begangen, das auch sie selbst erlitten hatte? Wie war er dazu nur fähig gewesen? Was hatte ihn zu einer solchen Tat getrieben? Wie jung mochte er gewesen sein?
Jetzt verstand sie auch sein seltsames Verhalten in der Schule, als er merkte, welche Frauen dort von ihr ausgebildet
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