Sueße Prophezeiung
gab es viele Zeugen, die Avalons Geschichte und Claudias Wahnsinn bestätigen konnten. Später käme dann die Zeit, sich Gedanken darüber zu machen.
Heute war ein schöner heller Tag, hier herrschte ein wärmeres Klima als in Schottland, und der Garten ihrer Mutter hatte sich noch nicht gänzlich zur Winterruhe begeben. Ein paar eigensinnige rote und goldene Blätter hingen noch als Nachklang des Herbstes an den Zweigen.
Ihr Ehemann schlief im warmen und weichen Kokon seiner Decken. Er sah aus, als ob er in ihr altes Zimmer gehören würde, dachte Avalon. Sie hatte dies für ihn ausgewählt, weil es sehr sauber war und sie nicht das Bedürfnis verspürte, sich in der trostlosen Umgebung der Räumlichkeiten des Hausherrn aufzuhalten. Das hatte sich auch nicht geändert, nachdem Warners Leichnam hinausgeschafft und die ganzen Räumlichkeiten geputzt worden waren.
Deshalb hatte sie ihren Gemahl nun dort untergebracht, wo sie einst wohnte. In jenem Eckzimmer mit seiner wundervollen Aussicht auf die riesige Birke und den Kiefernwald im Hintergrund. Dort hatte sie gespielt, ihren Träumen nachgehangen und war ihr Leben am glücklichsten gewesen. Bis sie Marcus begegnete.
Vielleicht würde sie ihn morgen mit nach unten nehmen, um ihm die alte Birke zu zeigen ... und ihm unter den mächtigen ausladenden Ästen einen Kuss zu stehlen. Sie war müßig den weißen Kiesweg entlanggegangen und suchte die versteckte Marmorbank, die sie bei ihrem vorigen Aufenthalt hier nicht gesehen hatte.
Und irgendwie war sie gar nicht überrascht, als der Mann, der eigentlich schlafen sollte, dort saß und auf sie wartete. Er hatte sich in seinen Tartan und einen Umhang gehüllt. Mit hell leuchtenden Augen beobachtete er ihr Näherkommen.
»Liebste Rosalind«, begrüßte er sie. »Ihr seid jetzt sogar noch lieblicher als das letzte Mal, als ich Euch hier begegnete.«
»Du hättest noch nicht nach draußen kommen sollen«, schalt sie ihn, aber der Tadel klang nicht überzeugend.
»Komm her und ich zeige dir, wie schwach ich bin«, lud Marcus sie neckend ein.
Mit einem Lächeln blieb sie dicht vor ihm stehen: »Wie fühlst du dich?«
»Ich habe das Gefühl, ich könnte tausend Jahre schlafen.«
»Wirklich? Wo habe ich das bloß schon einmal gehört?«
»Jetzt musst du eigentlich sagen, dass ich bereits genug geschlafen habe und dass jetzt der Moment für einen vergnüglicheren Zeitvertreib gekommen ist. Ich habe da sogar schon etwas ganz Spezielles im Sinn.«
Die Laube aus Geißblatt, die die Bank umgab, war heute mehr ein Geflecht aus ineinander verwobenen goldbraunen Zweigen, die ihn wie auf einer Bühne umgaben. Avalon beugte sich vor, um seine Wange mit den Fingerspitzen zu berühren. Er griff nach ihrer Hand und zog sie an seine Lippen. Sein Atem war warm und einladend.
»Avalon!« Bei ihm klang ihr Name wie eine Liebkosung, die diesen herrlichen Schauder von ihrer Hand bis in ihr Herz sandte. »Wir müssen bald einmal den Tag erleben, Treulieb, an dem keiner von uns beiden verletzt ist.«
»Das wäre schön.«
»Schöner als schön«, brummte er mit tiefer sehnsüchtiger Stimme, während er sie enger an sich zog. Seine Absichten waren so klar wie das Blau seiner Augen.
Eilig schob Avalon ihn von sich und schüttelte den Kopf. Aber es war gar nicht so leicht, und eigentlich hätte sie ihm viel lieber seinen Willen gelassen. Doch wollte sie ihm etwas mitteilen, und dies war der erste ruhige Moment seit dem Ende des Albtraums. Jetzt schien der richtige Augenblick gekommen zu sein, hier in diesem Garten unter dem klaren Himmel.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte sie und entzog ihm sanft ihre Hand.
»Später.« Sein Blick strahlte Wärme aus.
Sie stieß ein leises Lachen aus und kämpfte gegen den Drang an, ihn gewähren zu lassen. »Es geht dir noch nicht gut genug. Und du bedeutest mir zu viel, als dass ich noch zusätzlich an deinen Kräften zehren möchte.«
Er zögerte und erkannte die unterschwellige Bedeutung, wie sie es gehofft hatte.
»Wirklich?«, fragte er mit strahlenden Augen, und seine ganze Aufmerksamkeit war auf sie gerichtet. »Ich bedeute dir etwas?«
Sie schaute auf den mit Kies bedeckten Boden und ihre ineinander gelegten Hände. Sogar jetzt fiel es ihr schwer, es ihm zu gestehen.
»Ich hatte Angst«, sprach sie in Richtung ihrer Hände, »wusste gar nicht, wie groß meine Angst war, bis wir hier ankamen. Da ich so viel Zeit damit verbrachte, gegen die Furcht zu kämpfen, erkannte ich gar nicht,
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