Sueße Prophezeiung
wie fest sie mich in ihrem Griff hielt, wie tief sie in mir verwurzelt war. Ich war – so könnte man sagen – ein blindes, unglückliches Spielzeug, das von seinen Ängsten gebeutelt wurde.«
»Treulieb ...«, setzte er an, aber sie ließ ihn nicht zu Ende reden.
»Nein, bitte, hör mir zu.« Es gelang ihr, ihm wieder in die Augen zu schauen, und erneut spürte sie diese überwältigende Dankbarkeit, dass sie dies tun konnte, dass dies möglich war, dass sie hier sein und mit ihm, ihrem dunklen Engel, diesem herrlichen Mann sprechen konnte.
»Die Angst versperrte mir den Weg zu meinem eigenen Herzen, Marcus Kincardine. Sie machte mich einsam, immer kämpfte ich und wehrte mich gegen Dinge, die ich nicht verstand. Ich schäme mich dafür. Ich wünschte, es wäre nicht wahr, aber so ist es, und mir bleibt nur die Scham.«
Er sagte nichts, sondern nahm wieder ihre Hand und zog sie zu sich auf die Bank. Dieses Mal ließ sie es zu und setzte sich neben ihn in diese Geißblattlaube, ehe sie mit leiser Stimme fortfuhr.
»Wegen meiner Angst hätte ich dich beinahe für immer verloren. Beinahe wärest du deswegen gestorben. Ich habe dir nicht von meinem Versuch erzählt, um den du mich auf Sauveur gebeten hattest. Tatsächlich gab ich mir Mühe, etwas von der Geschichte des Keith MacFarland zu sehen. Aber was dabei zum Vorschein kam, ergab für mich keinen Sinn; deshalb sagte ich mir, es sei nur eine Einbildung, eine meiner morbiden Fantasie gewesen. Aber ich nehme an, dass es eine Vorahnung gewesen ist. Denn sobald wir dieses Zimmer zusammen mit Claudia betraten, war ich wieder darin gefangen und musste meine Rolle übernehmen, vor der ich mich nicht drücken konnte.«
Eine leichte Brise kam auf und ließ die Blätter ausgelassen zwischen ihren Füßen herumwirbeln. Die Äste des nahen Kirschbaums nahmen die Bewegung auf und hoben sich, um sich im Azurblau des Himmels zu wiegen.
»Wenn ich dir nur davon erzählt hätte«, stieß Avalon gequält hervor. »Wenn ich doch nur keine so große Angst gehabt und meinem inneren Auge getraut hätte – wenn ich dieses Ding in mir nur als das erkannt hätte, was es ist, wäre all dies vermeidbar gewesen.«
»Dann sag mir«, fragte er nach einer Pause, »was ist das für ein Ding, von dem du sprichst?«
»Dein Fluch«, erwiderte sie. »Deine Legende. Du hattest Recht. Ich hätte auf dich hören sollen.« Sie seufzte. »Es ist immer in mir gewesen, aber ich habe mich davor versteckt, leugnete es. Doch es lebt, und das von Anfang an.«
Avalon wandte den Kopf ab, dann schaute sie wieder in sein geliebtes, ernstes und aufmerksames Gesicht. »Dieses Ding bin ich«, erklärte sie. »Ich bin es immer gewesen. Das habe ich jetzt begriffen.«
Plötzlich veränderte sich seine Miene, und ein strahlendes, frohes Lächeln breitete sich auf seinem Antlitz aus. »Deine Gabe!«
»Ja, meine Gabe.« Und als sie sein Wort wiederholte, steckte seine Freude sie an. Die Trauer legte sich, und sie fand den Mut, seinem Blick zu begegnen. »In diesem Zimmer habe ich erkannt, dass es das ist, wie du es bezeichnest. Eine Gabe, kein Fluch!, wie ich endlich ganz genau weiß. Fast wäre es zu spät gewesen.«
Marcus legte den Kopf nach hinten und sah zum Geflecht aus Geißblatt empor, durch das kleine Flecken des Himmels blauten. Sie merkte, dass er nach tröstlichen Worten suchte.
»Mein ganzes Leben lang«, begann er, »habe ich gekämpft, um meine Kindheit zu vergessen. Ich kämpfte darum, die Mächte zu begreifen, die so weit außerhalb meines Verständnisses lagen. Die Lust am Morden im Manne. Der Machthunger derjenigen, die schon genug Macht besitzen. Ich versuchte, einen Sinn zu finden in Dingen, die keinen Sinn ergaben – denn das brauchte ich. Irgendwie musste für mich alles eine logische Erklärung haben. Nur so konnte ich meinen Weg durch Kriege, Schlachten und Ungerechtigkeiten gehen. Aber da kam einfach nichts. Auf meine Fragen habe ich nie Antworten gefunden, und ich habe schließlich erkannt, dass das auch nicht möglich ist ...
Es gibt so viele Dinge, die außerhalb unserer Vorstellungskraft liegen, Avalon. Trotzdem formen sie uns, machen uns zu dem, was wir sind, und geben der Welt ihr Gesicht. Ziemlich klar kann ich mir vorstellen, wie deine Kindheit bei Hanoch gewesen sein muss. Endlich verstehe ich es auch. Und ich sehe, wie sehr du dich in jeder Weise, die dir zur Verfügung stand, gegen ihn auflehnen wolltest. Ich habe es auch getan. Jahrelang bin ich nicht nach Hause
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