Sueße Prophezeiung
von dem Hieb, den sie ihm verabreicht hatte.
Das schon bekannte Brennen, das seine Berührung auslöste, ergriff wieder von ihr Besitz. Doch dieses Mal war es noch viel stärker als dort in der Schänke, wo es ein wenig Angst und trotzdem eine dunkle Erregung hinterlassen hatte. Erneut spürte sie das Rauschen, das ihren ganzen Körper durchströmte und darin eine prickelnde Hitze entzündete, die ihr den Atem nahm; der kam jetzt nur noch in kurzen Stößen und ließ ihre Haut jede einzelne Empfindung dieses Moments spüren: seinen Kuss, seinen Atem, seine raue Wange an ihrer ...
Sein Griff in ihrem Haar lockerte sich. Er hielt sie jetzt weniger, sondern führte sie eher, als er ihren Kopf sanft nach hinten beugte.
Der Druck seiner Lippen verringerte sich. Der Kuss wurde langsamer und wenn möglich noch aufwühlender. Ein neues Drängen entfaltete sich in ihrer Brust. Intensiv war sie sich seines Körpers, seiner Beine an ihren, ihrer Hände, die zwischen seinen gefangen waren, bewusst. Alles andere – die Männer, der Wald, ihre Entführung – verblasste.
Raubend und plündernd nahm Marcus mit seiner Zunge den Geschmack ihrer Lippen auf. Sie keuchte, als sich die Hitze in schmelzenden Honig verwandelte, sodass sie sich noch stärker an ihn presste, während sie darauf vertraute, dass er sie hielt.
Er hob seine andere Hand und umfasste ihr Gesicht. Sie war jetzt nicht mehr seine Gefangene, während er ihre Wange streichelte, mit den Lippen zu ihrem Mundwinkel fuhr und sie erneut kostete, indem er sanft an ihrer Unterlippe sog. Sie spürte sein träges, siegesbewusstes Lächeln.
»Noch nie hat eine Nonne so geküsst«, flüsterte er.
Sie riss sich von ihm los und drückte die Spitze des Dolches, den sie ihm gestohlen hatte, gegen seinen Hals.
»Nehmt mein Land«, keuchte sie, während sie versuchte, ruhig zu atmen. Zumindest bebte ihre Hand nicht. Der Anblick ihres eigenen Blutes, das jetzt getrocknet und verschmiert an ihrem Gelenk klebte, spülte die letzte Honigsüße fort, die er ihr beschert hatte.
Marcus bewegte sich nicht; keiner der Männer tat es. Trotzdem hatte sie zu viel Angst, den Blick von ihm abzuwenden, um sich davon zu überzeugen. Er wollte seinen Willen absolut durchsetzen, und sie konnte es sich nicht leisten zu verlieren.
»Seid vernünftig, Mylord«, probierte Avalon es auf andere Weise. »Ich gebe Euch alles, was Ihr haben wollt. Nehmt all meine Ländereien, all mein Geld. Es gehört Euch. Aber lasst mich gehen!«
Sein eisiger Blick wurde noch kälter. »Alles, was ich haben will?«
»Nun kommt schon«, drängte sie ungeduldig. »Ihr müsst einwilligen. Ihr könnt das ganze d’Farouche-Vermögen haben, ohne den Ärger, den Ihr Euch mit mir einhandeln würdet. Wie solltet Ihr da widerstehen?«
Da war keine Unsicherheit, stellte sie plötzlich fest. Überhaupt keine. Sein Verhalten konnte man höchstens als leichte Verärgerung bezeichnen – als müsse er sich auf einer Reise um ein Pferd kümmern, das nicht parierte.
»Aber was ist mit dem Fluch?«, fragte er mit betont sanfter Stimme.
»Ach, der Fluch.« Wegwerfend tat sie das Thema ab. »Ihr glaubt doch sicherlich nicht an solche Märchen, Mylord.«
»Es spielt keine Rolle, ob ich daran glaube oder nicht. Alle anderen tun es.«
»Nein«, entfuhr es ihr.
»O doch«, erwiderte er und ließ wieder einen Anflug seines teuflischen Lächelns sehen. »Ihr habt das Aussehen, Avalon. Ihr erfüllt alle Bedingungen. Meine Leute werden erst zufrieden sein, wenn Ihr wieder zur Familie gehört.«
»Das ist nichts als Aberglaube!«, schrie sie jetzt doch außer sich. »Ihr könnt Euch doch nicht von den Ängsten einer hundert Jahre alten Geschichte leiten lassen! Es gibt keinen Fluch!«
In einer einzigen fließenden Bewegung schlug er ihre Hand weg, sodass der Dolch ins welke Laub fiel.
»Es ist alles nur erfunden«, beschwor sie die Umstehenden. Sie wollte sie und auch sich selbst unbedingt überzeugen.
Marcus griff nach ihrem Arm und wandte sich an seine Männer. »Lasst uns aufbrechen.«
Vor hundert Jahren ...
Die Geschichte begann immer mit denselben Worten, und Marcus fragte sich, warum jedes Mal genau hundert Jahre erwähnt würden, wo er die Geschichte doch schon seit mindestens dreißig Jahren hörte.
Vor hundert Jahren lebten einst ein Laird und seine Gemahlin. Sie war die schönste Dame, die je die Lande geziert hatte. Ihr Haar war so hell wie Mondlicht, ihre Augen hatten die Farbe der seltensten Heideblüten, ihre
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